Sich wieder konzentrierend, sah er sich nun weiter um. Um den Kreis in seinem Kopf zu schließen und die Störung einigermaßen verarbeiten zu können, fehlten ihm noch drei Personen. Unsicher setzte er sich in Bewegung und schritt suchend den Flur ab. Weder Weinfried Tämmerer noch Susanne Grimm hatten am Frühstück teilgenommen. Julia Wagner war zumindest körperlich anwesend gewesen, jetzt aber gerade nicht zu sehen.
Er ging an Aufenthaltsraum und Pflegerzimmer vorbei. Beide Räume lagen sich direkt gegenüber und verfügten über hohe Glastüren – wobei das Glas natürlich kein Glas war, sondern aus Kunststoff bestand –, damit die Pfleger alles im Blick hatten und sofort einschreiten konnten, wenn es im Aufenthaltsraum zu Streitereien kam.
Susanne Grimm hielt sich im Pflegerzimmer auf. Sie war dort mit der Spüle beschäftigt und schien sich nicht für die Störung zu interessieren. Dafür umso mehr für die Freiheit jenseits des Fensters. Immer wieder warf sie sehnsüchtige Blicke hinaus.
Erleichtert atmete Versemann auf. Auch das war eine Konstante. Dieser sehnsüchtige Blick nach draußen war symptomatisch für die Frau mit den bunten Haaren. Sie stand fast immer am Fenster und blickte hinaus. Natürlich wohnte die Sehnsucht nach Freiheit, nach der Rückkehr in die „normale“ Welt, in ihnen allen. Aber bei Susanne Grimm schien sie besonders stark ausgeprägt.
Jetzt schritt auch Julia Wagner an Versemann vorbei. Auch sie schien sich nicht für die Störung zu interessieren, was ebenfalls nichts Ungewöhnliches war. Die Frau schien sich ohnehin für nichts zu interessieren, was um sie herum geschah. Deshalb nahm er ihr auch nicht übel, dass sie ihn nicht grüßte, ging er doch davon aus, dass sie ihn überhaupt nicht wahrnahm. Sie hatte sich völlig in sich zurückgezogen, sprach so gut wie nie, weshalb man auch nicht viel über sie wusste. Untereinander aber munkelten die Patienten, dass ihr etwas ganz Furchtbares passiert sein musste. Etwas, das sie völlig aus der Bahn geworfen hatte.
So schloss sich der Kreis in Stefan Versemanns Kopf. Jedenfalls beinahe.
Noch einmal sah er sich suchend um.
Wo war Weinfried Tämmerer?
Julia hatte Versemann sehr wohl bemerkt. Er interessierte sie nur schlicht nicht. In ihrem Kopf spielten sich ganz andere Dinge ab. Wie in Trance versuchte sie sich auf die Zimmernummern zu konzentrieren, an denen sie vorbeiging, die geraden Zahlen rechts, die ungeraden links. Auf gar keinen Fall wollte sie nachdenken – und konnte es trotzdem nicht verhindern. Einmal mehr hatte sie das letzte Zusammentreffen mit Eva vor Augen …
An jenem Tag im Mai hatte es geregnet, und Julia hatte sich gefragt, warum zum Teufel es auf einmal so heftig regnete. Genau genommen hatte es geschüttet wie aus Eimern. Die Bäume vor dem Fenster bogen sich im Sturm. Von fern grollte der Donner. Ein heftiges, lautes Maigewitter.
Mit bleierner Mattigkeit in den Knochen, die es ihr schwer machte, sich überhaupt zu erheben, hatte Julia Minuten damit zugebracht, sich unter heftigen Schmerzen ein frisches Sweatshirt überzustreifen, als es an die Tür des Krankenzimmers klopfte. Und dann stand sie auf einmal da. Eva.
Das Licht von draußen brachte ihre hellen roten Locken zum Leuchten, und ihre grünen Augen blickten Julia aufmerksam an.
So standen sie sich ein paar Sekunden gegenüber, unbeholfen, jede erwartete von der anderen, dass sie den ersten Schritt tat und damit den Tenor ihres Wiedersehens bestimmte. Und Julia hatte bei sich gedacht: So ist sie also, die Begrüßung, über die ich so lange nachgedacht habe. Zwei ehemalige Freundinnen, die dem Tod nur knapp entkommen sind, sich nun wiedersehen und nicht mehr wissen, wie sie miteinander umgehen sollen. Dann fiel ihr auf, dass ein Koffer an Evas Seite stand. „Du gehst.“ Mehr fiel ihr nicht ein.
„ Ich bin heute entlassen worden.“
„ Schön.“ Julia fühlte ein merkwürdiges Stechen in der Brust und blickte zu Boden.
Eva machte zwei Schritte auf sie zu, dann legten sich ihre Finger einen Moment lang auf Julias Hand. „Es ist besser für mich, wieder dahin zurückzugehen, wo ich hingehöre.“
Julias Blick verharrte auf dem Verband, der um Evas Hand gewickelt war. Sie senkte die Augen und blickte auf die andere Hand, die ebenfalls umwickelt war. Die beiden Verbände verbargen die Narben, die die Nägel darin hinterlassen hatten. Noch. Ein Stigma. Auf alle Ewigkeit deutlich sichtbar für jeden.
„ Es tut mir so leid, Eva. Es tut mir so unendlich leid.“
Julia hatte gedacht, es würde ihr besser gehen, wenn sie es ausgesprochen hatte. Irgendwo in einem kindischen, idiotischen Winkel ihres Gehirns hatte sie die vage Hoffnung genährt, alles würde irgendwie besser werden, wenn sie sich entschuldigt hatte. Vielleicht würde Eva sie beschimpfen, aggressiv werden. Wahrscheinlich hätte es Julia sogar geholfen, wenn es so gewesen wäre. Aber Eva schimpfte nicht. Sie war auch nicht wütend. Sie stand einfach nur da, und Julia stellte fest, was für eine Idiotin sie doch gewesen war. Naiv war das Wort, das sie heute für jene Gedanken von damals fand. Wenn ein Mensch um ein Haar sein Leben wegen eines anderen Menschen verlor, dann war man ein Idiot, wenn man glaubte, eine Freundschaft würde dadurch keinen Schiffbruch erleiden.
„ Wir müssen beide damit leben“, sagte Eva leise. „Du für dich und ich für mich. Verzeih mir.“
Damit ging sie, und die Tür fiel hinter ihr zu.
Julia zählte die Schritte, die sie den Flur auf und ab machte. 199, 200, 201 … Alles war in jenem Augenblick in ihr zerbrochen, sosehr sie Eva auch verstand. Sie fragte sich, was sie wohl getan hätte, wenn auch sie ihretwegen gestorben wäre. Sie musste schon mit Sandmanns Tod leben, wie hätte sie auch noch Evas Tod verkraften sollen?
In diesem Augenblick konnte Julia wieder Langes Gelächter hören. Es war einfach überall, und sie spürte schon wieder einen Anfall von Übelkeit in sich.
Es wäre so einfach, dachte sie. So einfach, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Das Ringen zu beenden. Die Stimmen zum Verstummen zu bringen und die Albträume ein für alle Mal zu zerschmettern. Die Vorstellung war verlockend. In gewisser Weise bot sie sogar die Lösung auf alles. Aufhören zu atmen. Aufhören zu träumen. Aufhören zu denken. So, wie Kerstin es getan hatte. Ein Schritt genügt. Ende und aus.
Als Julia das nächste Mal den Blick hob, stellte sie fest, dass sie gerade an Zimmer Nummer 9 vorbeikam. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre, sie registrierte es nur. Doch dann trat sie mit ihrem Turnschuh auf etwas und hielt inne. Eine Serviette. Sie bückte sich, um sie aufzuheben.
Es war eine ganz normale, weiße Papierserviette, wie sie jeden Tag zu Dutzenden im Speiseraum ausgegeben wurden. Der einzige Unterschied zu den anderen war der, dass jemand mit einem dicken schwarzen Stift, vermutlich einem Edding, die Zahl 5 darauf geschrieben hatte.
Julia sah sich um. Hatte jemand die Serviette verloren? Die Patienten hier sammelten alles Mögliche, warum nicht auch Papierservietten?
Julias Blick blieb an der Tür hängen, vor der sie gelegen hatte. Sie stand ein Stück weit offen und als sie genauer hinsah, entdeckte sie im Inneren des Zimmers etwas, was sie nicht sofort einordnen konnte. Ein roter Fleck auf dem Fußboden.
Aus dieser Entfernung hätte alles Mögliche dahinterstecken können, aber Julia wusste instinktiv, dass es sich dabei um nichts Gutes handelte.
Sie zwang sich, einen Schritt auf die halb offene Tür zuzugehen. Dann sah sie etwas, was aussah wie ein ausgestreckter Arm, der sich nach Hilfe reckte. In der nächsten Sekunde kippte das Bild vor Julias Augen und formte sich neu. Sie ließ eine Minute verstreichen, zählte die Sekunden. Dann betrat sie das Zimmer.