„Nein, meine Kollegin. Frau Doktor Sattler.“
Charlotte dachte wieder einen Moment nach. „Er hat also wegen dem Mädchen den Schuldienst aufgegeben?“, fragte sie dann weiter.
Malwik nickte. „Er sah keine andere Möglichkeit. Durch die Geschichte war eine Hetzkampagne gegen ihn gestartet worden, die über Monate anhielt. Wäre er nicht freiwillig gegangen, so wäre er von der Schulbehörde suspendiert worden. Wenigstens bis zur Aufklärung des Vorfalles. Dem wollte er zuvorkommen.“
Draußen schlug eine Tür zu.
„Wie heißt das Mädchen, das Tämmerer missbraucht haben soll?“, fragte Charlotte weiter.
„Lilly Jensen. Leider lebt das Kind nicht mehr. Es hat sich vor etwa einem halben Jahr das Leben genommen.“
Charlotte atmete tief durch. „Und diese Geschichte gelangte – unter mysteriösen Umständen – unter die anderen Patienten, habe ich das richtig verstanden?“
Malwik nickte. „Es ist mir unerklärlich, wie das geschehen konnte. Aber es passierte tatsächlich genau so.“
„Sie werden doch wohl eine Untersuchung eingeleitet haben.“
„Sicherlich. Aber es kam nichts dabei heraus. Wir konnten weder einen der Pfleger noch einen von uns Ärzten dafür verantwortlich machen. Dass einer der Patienten an Tämmerers Akte gelangt sein sollte, war von vorne herein auszuschließen.“
„Und dass Tämmerer es selbst erzählt hat – warum auch immer?“
„Auf gar keinen Fall.“
Noch einmal atmete Charlotte tief durch. „Seine Diagnose gelangte also an die anderen Patienten. Und ich nehme an, von da an hatte er nichts mehr zu lachen.“
Malwik nickte. „Tatsächlich wurde es von da an sehr schwer für ihn.“ Er brach ab, fügte aber eilig hinzu: „Dennoch kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihn jemand deshalb umgebracht haben sollte. Schon gar nicht auf diese Art und Weise. Es muss eine andere Erklärung geben, und ich hoffe, Sie finden sie. Sie scheinen über einen wachen Geist zu verfügen, Frau Kommissarin, auf den ich vertraue.“
Darauf ging Charlotte nicht ein. „Wissen Sie, ob er sich vor jemandem auf der Station ganz besonders fürchtete? Gibt es jemanden, den man als seinen größten Feind bezeichnen konnte? Jemand, der ihn so sehr hasste, dass er ihn tot sehen wollte?“
Malwik schien zu überlegen, ehe er darauf antwortete: „Wir haben mehr als einmal mit ihm darüber gesprochen. Aber er hat sich leider nie ausreichend dazu geäußert.“
Charlotte war sich nicht sicher, ob sie das glauben konnte, beließ es aber vorerst dabei. Der Professor sprach auch schon weiter: „Wir dachten natürlich darüber nach, ihn in eine andere Klinik zu überweisen, aber das wollte er nicht. Er wollte es … fast bin ich geneigt zu sagen: aushalten.“
„Das hier wurde vor seiner Zimmertür gefunden.“ Charlotte reichte ihm die eingetütete Serviette.
Malwik nahm sie entgegen und betrachtete sie ausgiebig. „Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat, Frau Kommissarin.“
„Nun denn …“, sagte sie und nahm die Serviette wieder an sich. „Wir werden jetzt alle Zimmer und auch den ganzen Rest der Station durchsuchen, Herr Professor.“
„Auf gar keinen Fall.“ Sofort war Malwik auf den Beinen und verschränkte die Arme vor der Brust wie ein Türsteher in einem Privatklub, was lustig aussah, bei seiner beeindruckenden Größe von gerade mal einem Meter fünfundsechzig. „Ich möchte nicht, dass die Patienten noch mehr durcheinandergebracht werden.“
„In Ordnung. Wie Sie möchten. Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn jemand etwas findet.“
„Was meinen Sie?“
„Eine geladene Waffe, zum Beispiel. Oder eine Kugel im Kopf eines weiteren Patienten.“
Der Psychiater rang mit sich. „Meinetwegen“, sagte er schließlich. „Aber bitte, tun Sie es so zurückhaltend und so schonend wie möglich.“
10. KAPITEL
Seltsame Erscheinungen
Seufzend wandte Charlotte sich an den jungen Kollegen, der zu ihrer rechten Seite stand, und fragte: „Sind Sie bereit?“
Der Mann mit dem Namen Michael Tech nickte unsicher. Gerade erst zur Mordkommission gekommen, war dies der erste große Fall, an dem er mitarbeitete, und entsprechend nervös war er. Dies hätte Charlotte gerade noch hingenommen, immerhin hatten sie alle irgendwann einmal angefangen; bei Tech lösten Nervosität und Unsicherheit allerdings den unangenehmen Reflex aus, sich den Zeigefinger ins Ohr zu stecken und dann zu betrachten, was er daraus hervorholte. So wie jetzt.
Sie verkniff es sich, ihm wie einem Kind auf die Finger zu hauen, wandte sich stattdessen ab und sagte: „Also dann. Fangen wir an.“
Eine ausgesprochen seltsame Erscheinung erwartete sie im ersten Zimmer: ein Mann mit schütterem Haar, ungepflegtem Zottelbart und burgunderrotem Gesicht, der einen Pullover trug, welcher schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte, und sich so linkisch bewegte, dass er fast über seine eigenen Füße stolperte.
„Mein Name ist Charlotte Gärtner“, stellte Charlotte sich vor und fügte mit einer knappen Handbewegung hinzu: „Das dort ist mein Kollege Tech. Wir sind von der Kriminalpolizei und werden jetzt Ihr Zimmer durchsuchen.“
Der Mann nickte weder noch schüttelte er den Kopf. Aber er trat zur Seite, und sie schritten an ihm vorbei.
Sofort schlug Charlotte ein säuerlicher Gestank aus Müll und Schweiß entgegen. Aber nicht nur das. Es roch auch noch nach etwas anderem. Nach kaltem Rauch. Aber nicht nach Zigaretten. Sie schnüffelte kurz, dann wandte sie sich dem Mann zu. „Wie ist Ihr Name?“, wollte sie wissen.
„Karl“, sagte er mit überraschend heller Stimme. „Hamm Se mal ’ne Kippe für mich?“
„Ich rauche nicht.“
Der Mann mit dem Namen Karl wandte sich an Tech. „Sie?“
Auch der junge Beamte hob bedauernd die Schultern.
„Shit. Stürm’ Se am helllichten Tag in mein Zimmer und hamm nit mal was zum Qualmen?“
„Tut mir leid“, sagte Charlotte. „Wie ist Ihr Nachname?“
„Waffenschmied.“
Sie nickte, trat zum Bett in der Ecke, schob die Decke zur Seite und stellte überrascht fest, dass sich kein Betttuch über der Matratze befand. Stattdessen ein großes dunkles Loch in der Mitte.
„Hab heut Morgen mein Bett angezündet“, erklärte Waffenschmied in ihren Rücken. „Deshalb hamm se mir die Streichhölzer und die Kippen weggenommen.“
„Ach“, machte Charlotte. „Dann waren Sie also für die Störung verantwortlich.“ Sie hob die Matratze an, legte sie wieder zurück auf den Rost und schaute dann unter das Bett.
„Hab nicht aufgeräumt“, redete Waffenschmied weiter in ihren Rücken.
„Das ist mir bereits aufgefallen.“ Charlotte richtete sich wieder auf.
„Hätt ich gewusst, dass Frauenbesuch kommt, hätt ich aufgeräumt.“
„Sie können immer noch durchlüften.“
„Hab ’ne Frau. Erika. Hab ich öfter ma hart angefasst. Da isse mir weggelaufen. Dann kam der Alkohol. Hat mich vom Weg abgebracht. Aber ich werd wieder.“
„Das freut mich für Sie.“ Den aufgeplatzten Äderchen und den nach unten gezogenen Mundwinkeln zufolge hatte Erika ihn schon vor einer ganzen Weile verlassen.
„Sie hamm ja keine Ahnung, wie einen das hier fertigmacht“, redete er weiter in Charlottes Rücken.