Todesruhe - Ein Fall für Julia Wagner: Band 2. Tanja Noy. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tanja Noy
Издательство: Bookwire
Серия: Ein Fall für Julia Wagner
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788726643077
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Grimm beugte sich über den Ausguss der Spüle und löste mit der Zange den Wasserhahn. Dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und sah noch einmal für einen kurzen Moment aus dem vergitterten Fenster.

       Ich hab schon beinahe vergessen, wie sich die Sonne auf meinem Körper anfühlt. Oder der Regen.

      Es war Sommer, aber die Farben existierten nur draußen.

      Das einzig Gute war, dass der heutige Tag nicht wesentlich schlimmer werden konnte als der gestrige. Aber war das wirklich ein Trost?

      Susanne seufzte leise, und während sie weiterarbeitete, versuchte sie sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal Sex gehabt hatte. Etwas, an das man sich eigentlich ohne Schwierigkeiten erinnern sollte, aber vor ihrem inneren Auge entstand kein Gesicht. Jedenfalls nicht gleich. Es war einfach zu lange her. Wahrscheinlich auch nicht wichtig genug. Vermutlich auch nicht gut genug.

      Doch dann erinnerte sie sich plötzlich wieder. Damals – vor ein paar gefühlten Jahrhunderten –, als sie noch Bass in einer Band gespielt hatte, mit ihrer unvergänglichen Liebe zu Punk. „Punk ist unser Lebensgefühl!“, hatten sie zu Beginn jedes Auftrittes ins Publikum geschrien. Und mit dieser Erinnerung kam auch die Erinnerung an die letzte Frau zurück, mit der sie im Bett gewesen war. Und an den Sex. Und an die Enttäuschung danach. Gerade mal ein bisschen Zeit, um zu tasten und zu schmecken, ein bisschen Gestöhne, und schon trat die Langeweile ein und schimmerte in ihrer ganzen Pracht oberhalb des Bettes.

      Der nächste Gedankenschnitt. Susanne sah noch einmal die beiden Polizisten vor sich, die sie vor zwei Monaten aus ihrer Wohnung geholt hatten. Der eine war ziemlich groß gewesen und hätte mit seinem hellbraunen welligen Haar und dem Oberlippenbart perfekt zu den Village People gepasst. Der andere war um einiges kleiner, wesentlich gepflegter, mit schütterem grauem Haar. Beide hatten demonstrativ die rechte Hand an ihre Waffen gelegt, während sie in ihrer Wohnung standen.

       Ziehen Sie sich etwas an und kommen Sie mit“, hatte der mit dem Oberlippenbart gesagt und sie dabei auffordernd angesehen.

       Susanne hatte sich nicht gerührt, die beiden nur angesehen. Immerhin, sie hatte gelächelt. Die beiden lächelten jedoch nicht zurück.

       Und dann vergingen Sekunden. Eine nach der anderen, so lange, bis einer von ihnen etwas sagen musste. Erneut entschied sich der Oberlippenbart dafür: „Es liegt eine Anzeige gegen Sie vor, wegen schwerer Körperverletzung. Ziehen Sie sich jetzt etwas an und kommen Sie mit.“

       Hat das Schwein mich also tatsächlich angezeigt?“ Susanne hatte dem Kleineren einen Blick zugeworfen, doch der hob nur die Schultern. Vermutlich versuchte er sich gerade vorzustellen, wie sich die Sache im Hinterhof der Kneipe abgespielt haben könnte.

       Sie wissen, was der Typ getan hat?“, wandte Susanne sich wieder an den Oberlippenbart.

       Der reckte leicht den Hals, als hätte er Schmerzen. „Ziehen Sie sich jetzt an und kommen Sie mit. Sonst müssen wir Gewalt anwenden.“

       Oh, das möchte ich natürlich nicht. Ich bin grundsätzlich gegen Gewalt, auch wenn Sie mir das jetzt wahrscheinlich nicht glauben.“

       Sie glaubten es ihr tatsächlich nicht, und schließlich hatte Susanne sich angezogen und war mit ihnen gegangen.

      In dieser Sekunde kam Heide Sacher völlig außer Atem ins Pflegerzimmer. Sie griff nach einer Kaffeetasse, ehe sie in der Bewegung innehielt und sich erstaunt zu Susanne umwandte. „Sind Sie etwa immer noch hier?“

      „Sie haben mich nicht rausgeschickt, ehe sie mit Jäger abrauschten“, bemerkte Susanne und legte einen neuen Dichtungsring ein.

      „Aber Sie dürfen nicht alleine hier sein. Das wissen Sie doch selbst am besten, Frau Grimm.“

      Susanne lächelte dünn und drehte die Zange mit ganzer Kraft. „Keine Sorge, ich hab nichts angefasst. Ich wollte hier nur fertig werden. Hat Waffenschmied mal wieder sein Bett angezündet?“

      Seufzend ließ die Pflegerin sich auf einen Stuhl sinken. „Allerdings.“ Sie trank einen Schluck Kaffee und fügte hinzu: „Entschuldigen Sie. Ich wollte Sie nicht anfahren. Aber wenn so etwas schon am frühen Morgen passiert … Wie geht es Ihnen denn inzwischen?“

      „Geht so.“ Susanne richtete sich auf und wusch sich die Hände. Dann drehte sie den Wasserhahn wieder zu und nickte zufrieden, als er nicht mehr tropfte.

      Heide lächelte ebenfalls anerkennend. „Wenn Sie hier wieder raus sind, können Sie jederzeit aufs Klempnern zurückgreifen, falls es mit Ihrem eigentlichen Job nicht klappt.“

      „Wissen Sie, genau das hab ich meinem Vater auch gesagt, als ich mich damals an der Uni einschrieb. Aber er fand das damals überhaupt nicht witzig.“

      „Was haben Sie eigentlich studiert?“

      „Spanisch und Französisch. Auf Lehramt.“ Susanne schob die Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Fußballen. „Danach fand ich leider keine Stelle als Lehrerin und hab mich leidlich mit Aushilfsjobs über Wasser gehalten.“

      Heide konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen. „Ich kann Sie mir so gar nicht als Lehrerin vorstellen.“

      Susanne lächelte ebenfalls und wollte etwas darauf antworten, doch sie wurde abgelenkt. Sie wandte den Kopf und blickte hinaus auf den Flur. Dort entdeckte sie ihre Zimmernachbarin, von der sie nicht mehr wusste, als dass sie Julia hieß, und beobachtete, wie diese etwas vom Boden aufhob, was aussah wie eine Serviette. Dann schwankte sie leicht und verschwand kurz darauf in Zimmer 9.

      Ohne ein weiteres Wort verließ Susanne das Pflegerzimmer und folgte ihr über den Flur.

      Das ganze Zimmer stank nach Tod.

      In dem Augenblick, in dem Julia es betreten hatte, hatte sie bereits das Schlimmste befürchtet. Und sie hatte recht behalten. Nun stand sie da und versuchte sich zu sagen, dass das, was sie da vor sich sah, nicht real war.

      Aber es war die Wirklichkeit.

      Die nächste Frage, die Julia sich stellte, war, wie lange der Mann hier schon so liegen mochte. Sie wusste es nicht, aber es waren sicher schon ein paar Stunden. Eine Fliege summte an ihrem Ohr. Mit dem Handrücken wischte sie sie weg. Ihr Herz pochte derart heftig, dass es in ihrem Brustkorb schmerzte.

       Warum immer ich? Warum, verdammt noch mal, immer ich?

      Die unausgesprochene Frage hallte in Julias Kopf nach.

      Wenn sie etwas nicht – und überhaupt nie mehr – gebrauchen konnte, dann das. Deshalb begann sie bereits in der nächsten Sekunde abzuwägen, was sie tun musste und was sie sich erlauben konnte, nicht zu machen: Sie konnte Alarm schlagen, hierbleiben und auf die Polizei warten. Oder sie konnte sich umdrehen, leise wieder verschwinden und darauf warten, dass jemand anders die Leiche fand.

      „Oh, mein Gott!“

      Erschrocken fuhr Julia herum.

      Hinterher sollte sie sich noch oft an Susannes Augen erinnern, die so sehr geweitet waren, dass die Pupillen die ganze Iris einzunehmen schienen angesichts des Unfassbaren, das da vor ihnen auf dem Bett lag.

      Susanne wollte einen Schritt auf die Leiche zugehen. „Ist er tot?“

      Schnell hob Julia eine Hand. „Bleib, wo du bist.“ Auf die gestellte Frage antwortete sie erst gar nicht. Denn dass der Mann tot war, daran gab es nun wirklich keinen Zweifel. Einer ihrer Mitpatienten, der einfach nicht mehr existierte. Er würde nicht mehr im Speiseraum an einem der Tische sitzen. Er würde an keiner Gruppensitzung mehr teilnehmen. Vor allem aber würde dieser Mann nie wieder die Sonne draußen vor dem Fenster sehen können. Denn davon abgesehen, dass er tot war, hatte er auch keine Augen mehr. Lediglich zwei blutige, leere Höhlen starrten noch an die Decke.

      „Was, um Himmels willen …“