Ein Traum von Freiheit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711480380
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Ireland übertraten. Sie, und vielleicht nur sie, scheinen sich problemlos zwischen unseren beiden Welten bewegen zu können, sind wichtige und mächtige Persönlichkeiten in unserer protestantischen Welt, und dennoch heißen sie die eingeborenen Musiker und Dichter bei sich willkommen, werden Lieder und Gedichte zu ihren Ehren komponiert. Das war jedenfalls bis vor wenigen Jahren so, denn nun haben die Brownes einen düsteren und zweifelhaften Ruf, aus Gründen, die mein Bericht erklären wird. Wenn ich die Brownes nur verstehen könnte, dann würde ich viel von den verworrenen Wurzeln der Vergangenheit, ihren verzwickten Loyalitäten und blutigen Erinnerungen verstehen. Die Wahrheit über dieses Land ist vor den Augen der Fremden verborgen. Die Wahrheit, wie die Schätze der Wikinger, liegt in den Mooren vergraben.

      Moore und Bergketten schlossen uns in Tyrawley ein und überließen uns dem Anblick des grauen Ozeans. 1797 jedoch wußten wir, daß die Ereignisse in den anderen Teilen Irlands auf die Rebellion zutrieben. Die verbrecherische und umstürzlerische Society of United Irishmen, eine Bande von skrupellosen städtischen Radikalen in Dublin und Belfast, war zum Aufstand entschlossen und hatte sich zu diesem Zweck für eine unnatürliche Allianz zwischen den papistischen Bauern des Südens und den presbyterianischen Bauern des Nordens entschlossen. Ihr Agent im Ausland, der Deist und Irre Wolfe Tone, hatte die Unterstützung der Königsmörderin Frankreich gesichert. Ein Jahr zuvor war eine gewaltige Invasionsflotte an der Küste von Kerry nur durch das zurückgeschlagen worden, was die Bauern als »die protestantischen Winde« bezeichneten. Dann, im Frühjahr 1798, hörten wir von den entsetzlichen Aufständen in Wexford und Antrim, wo mörderische und irrwitzige Bauern das Land verwüsteten, ehe sie mit großer Brutalität besiegt werden konnten. Eine schreckliche Wartezeit folgte, denn obwohl die rebellischen Counties zu riesigen Leichenhäusern geworden waren, hatte das Netzwerk der höllischen Verschwörung in Mittelirland und in einigen Teilen Munsters überlebt. Eine zweite Invasionsflotille, hieß es, wurde an Frankreichs Küste zusammengezogen, und Wolfe Tone lauerte wie ein Sturmvogel über ihren Masten. Mit diesem Augenblick schrecklichen Wartens möchte ich meinen Bericht beginnen.

      Dies alles aber erreichte uns wie Nachrichten aus einem anderen Land. Unsere örtliche Milizabteilung, eine rein protestantische Truppe unter dem Kommando von Captain Samuel Cooper, exerzierte häufiger, weniger jedoch, um unsere Küsten zu verteidigen als um den papistischen Bauern klarzumachen, daß der derzeitige Stand der Dinge unveränderlich sei. Es gab zuerst einen, dann mehrere, dann zahlreiche Fälle von verstümmeltem Vieh, ausgeführt von Männern, die sich »die Whiteboys von Killala« nannten, aber das Whiteboytum war eines unserer altvertrauten Übel. Die fernen United Irishmen predigten den Aufstand im Namen einer ersehnten »Republik Irland«, aber die irische Sprache hatte kein Wort für diese Staatsform und noch viel weniger hatte dieses Wort irgendeine Existenz in der Vorstellungskraft unserer Bauern. Natürlich gab es auch unter den Bauern, Gastwirten und Schulmeistern und ihresgleichen manche, die, als sie von der Rebellion in Wexford gehört hatten, hochtrabend von der »Gälischen Armee« sprachen. Und viele der Protestanten, vor allem von der engstirnigeren und unwissenderen Sorte, sprachen voller Furcht und Zorn von einem Aufstand der Knechte. Aber das alles war weit weg von Mayo.

      Ich habe immer wieder versucht, mir vorzustellen, ich befände mich in einer der Schenken, die die Bauern besuchten, einer niederen, üblen Hütte, verräuchert und stinkend. Irgendwer beschreibt den Anwesenden den Aufstand von Wexford, nicht als das Gemetzel, das er in Wirklichkeit war, sondern als den glorreichen Aufmarsch der »Gälischen Armee«, mit Bannern und Dichtern, wie eine Strophe aus MacPhersons Ossiangedichten. Ich versuche mir die Gesichter, die ich nur von der Straße, von Feldern oder Ställen kenne, weiße Haut, schwarze Haare, dunkle Augen, in dieser Umgebung vorzustellen. Mit welcher Wucht müßten die Worte des Sprechers so eine Versammlung treffen, denn die eingeborenen Iren lassen sich, wie seit den Tagen des elisabethanischen Spenser bemerkt worden ist, von großen Worten leicht überwältigen.

      Eines Tages habe ich im Haus von Mr. Treacy Owen Ruagh MacCarthy seine Gedichte rezitieren hören. Er besuchte die Dienerschaft, und als Treacy davon hörte, ließ er ihn an unseren Tisch kommen, wo er vor uns stand und ein Gedicht vortrug, für das er sehr großzügig mit Silbermünzen und zwei Glas Brandy belohnt wurde. Es war eine Gedichtform namens Aisling, wie ich von Mr. Treacy erfuhr, ein Gedicht über eine Vision, in der der Dichter über die Wiesen wandelt und dabei eine Jungfrau trifft, die ihm in verschleierten und vorsichtigen Wendungen ihr derzeitiges Leid erzählt und ein Ereignis von großem Glück für das gälische Volk prophezeit – vielleicht daß Bonnie Prince Charlie mit Kriegern und Weinfässern und französischen Münzen an die Küste gesegelt kommt. Das Gedicht jenes Abends unterschied sich von anderen seiner Art nur darin, daß nicht der Stuart-Thronfolger herbeigerufen wurde, sondern eine namenlose, nebelhafte Befreiung. Es ist offenbar eine schwierige und metrisch komplexe Form, trotz des konventionellen Inhalts, und MacCarthys Ruhm unter den eingeborenen Dichtern beruhte angeblich auf seiner Meisterschaft im Umgang mit dieser Technik. Das Gedicht wurde mit ausdrucksstarker Vehemenz von Stimme und Körper vorgetragen, aber ich gebe nicht vor, zu bewundern, was ich nicht verstehen kann.

      Als ich einige Stunden später Bridge-end House verließ und zu dem Jungen, der mein Pferd hielt, hinüberging, kam ich an der offenen Tür eines Nebengebäudes vorbei, hörte abermals MacCarthys Stimme und warf einen Blick hinein. Etliche Bedienstete waren dort versammelt, und MacCarthy, sehr betrunken, hatte einen Fuß auf eine Bank gestellt. Ein Mädchen stand neben ihm, und sein freier Arm war um ihre Hüfte geschlungen, seine Hand liebkoste ihren Busen. Ich brauchte keinen Cicerone, um mir die Bedeutung seines Liedes zu erklären. Als ich davonritt, endete das Lied, aber die Luft war erfüllt vom Klang einer Violine, die eine mitreißende Melodie spielte, sehr schnell und munter, wie zu einem Tanz.

      Musik und Tanz. Was ich geschrieben habe, muß doch ein Volk zeigen, das von Gott verflucht ist, in dumpfer Bewegung unter einem düsteren Himmel. Und doch, sollten sie meine Worte hören, sie würden sie entschieden abstreiten. Denn wenn das innere Auge die zerstörende Armut sieht, dann hört das innere Ohr Musik. Kein Volk auf der Welt, das ist meine Überzeugung, liebt Musik oder Tanz oder Beredsamkeit so sehr, obwohl die Musik in meinen Ohren fremd klingt und die Beredsamkeit entweder eine Sprache annimmt, die ich nicht verstehen kann, oder ein steifes, bombastisches und blumiges Englisch. Mehr als einmal wurde, wenn ich Mr. Treacy besuchte, nach dem Essen irgendein wandernder Harfner hereingerufen, zumeist blind, mit langgezüchteten Fingernägeln, deren hornige Ränder die Geheimnisse seiner Kunst verbargen. Die Musik ertönte für uns mit der Traurigkeit einer verlorenen Welt, jeder Ton ein Botschafter, der zwischen den Pokalen aus Waterford auf Wanderschaft ausgesandt wurde. Wenn ich spät nachts nach Hause ritt, vorbei an Schenke oder Bierhaus, hörte ich Harfen und Violinen, immer heftiger trampelnde Füße. Ich habe sie tanzen sehen, abends an Markttagen, auf Wiesen, die die Gewohnheit für diesen Zweck bestimmt hatte, mit schnellen Bewegungen, die Gesichter unbeweglich, aber mit strahlenden Augen, konzentriert. Ich habe sie schweigend beobachtet, während die Zügel locker in meiner Hand lagen, und mich über die Ruhe meines eigenen Körpers, über meine starren und schweren Schultern gewundert.

      Dunkelheit verbirgt sie vor mir, und mein Mitleid ist unchristlich und kühl. Ich wünsche mir ernsthaft, in ihr Leben einzutreten, aber dieser Wunsch wird nur verhöhnt, von Captain Coopers selbstgefälliger Angeberei, von der Erinnerung an MacCarthys Fuß auf einer Bank, von dem Gewirr von fremdartigen Gesichtern auf Märkten und Heiligenfesten, von Tanzenden auf einer Wiese, vom Klang einer fremden Sprache. Ja, und auch vom bloßen Anblick dieses Landes, von den abweisenden Hügeln, dem monotonen braunen Moorland, den kleinen Seen, die wie wachsame Augen im Moor liegen. Es erscheint mir als ein Land, das wütend seine mageren Geheimnisse bewahrt, das sich mit seiner Unbegreiflichkeit brüstet. Ob es den Leuten selber auch so vorkommt, kann ich nicht sagen. Sie sind ein uraltes Volk und besitzen ein uraltes Wissen, das, weil es keine Weisheit erreicht, den Fremden erschreckt.

      Und so kommen in dem Bericht, mit dem ich nun beginnen werde, viele der Auftretenden aus einer Welt, die erkenntlich meine eigene ist, auch wenn die lokalen Bedingungen sie stark verändert haben mögen. Mr. Falkiner, mein lieber Freund, könnte sehr wohl in Derbyshire leben und mit meinem Bruder über Ernten oder Politik diskutieren. Und Mr. Moore von Moore Hall würde sich in London sicher eher zu Hause fühlen als in Mayo. Auch kann England sich nicht rühmen, keine Männer wie Captain Cooper zu besitzen, dörfliche Caesaren und Hannibals, beherzte Captains ihrer Sonntagssoldaten.