Ein Traum von Freiheit. Thomas Flanagan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Flanagan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711480380
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meiner Begegnungen mit neuen Orten und Gesichtern und mit einer Gesellschaft, die pittoresk und beunruhigend zugleich ist. Aber wie andere meiner Projekte geriet es nach einigen Monaten vollends ins Stokken und sammelte dann lange auf einem Regal in meinem Studierzimmer Staub an. Wo sich diese Notizen jetzt befinden, kann ich nicht sagen; vielleicht wurde mit ihnen ein Feuer entfacht, ein Schicksal, das an diesem Ort losen Papierblättern widerfährt. Sie hätten ohnehin keinen großen Zweck erfüllt, da meine frühen Eindrücke, wie ich jetzt weiß, allesamt falsch waren, denn dieses Land ist so verräterisch wie das Moor, das ein Großteil seiner Oberfläche bedeckt. Es ist, im wahrsten Sinne des Wortes, ein aus-ländischer Ort und unempfänglich für die Lehren der Zivilisation.

      Mein jetziges Ziel, praktischer und begrenzt, ist, so umfassend und unparteiisch wie ich kann, jedoch ohne müßige Abschweifungen, einen Bericht der Ereignisse zu geben, die vor einigen Jahren unserer abgelegenen Gegend eine vorübergehende Berühmtheit beschert haben. Deshalb muß ich zu Anfang meine eigene und verwirrte Sicht dieser besonderen Welt geben, die Bühne und Darsteller für mein Drama geliefert hat.

      Eine Landkarte zeigt Mayo als einen County im entferntesten Westen des Landes, das seit einigen Jahren als das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Irland bezeichnet wird. Zu der Zeit, über die ich schreibe, war Irland jedoch theoretisch ein eigener Staat, der sein eigenes Parlament besaß, sich mit England König George als souveränen Herrscher teilte und von England stark beeinflußt wurde. Über seine illusorische und eingebildete »Unabhängigkeit« werde ich später noch einiges zu sagen haben. Im Moment will ich jedoch nur bemerken, daß die Ereignisse, die ich darstellen will, dazu beigetragen haben, das vielgerühmte, aber gefälschte »Königreich Irland« zu Fall zu bringen. So können große, den ganzen Staat betreffende Veränderungen bisweilen in rohen und abseitigen Umständen wurzeln.

      Wenn ich diese Karte Irlands kolorieren sollte, dann würde Mayo darauf in Braun- und Blautönen erscheinen, im Braun der Hügel und Moore, über die sich ein endloser Himmel aus hellem Blau wölbt. Falls es nicht regnet, was leider oft der Fall ist. Während ich dies hier schreibe, regnet es, stetig und großzügig, wodurch ich die Bucht, auf die mein Studierzimmer blickt, nicht mehr sehen kann. Meine Pfarre liegt in der Stadt Killala in der Baronie Tyrawley, einst ein Bischofssitz und eine wohlhabende Gemeinde von Küstenhändlern, jetzt seit Jahrzehnten in einem Stadium von tristem Niedergang und Verfall. Es gibt natürlich noch andere Städte in Mayo: Ballina, unsere erfolgreiche Rivalin im Süden; Westport an der Westküste, der Sitz des Marquis von Sligo, verschönt von seinem eleganten Landsitz. Aber es gibt nur eine Stadt von wirklicher Bedeutung, Castlebar, die Hauptstadt von Mayo, wie sie großsprecherisch genannt wird, und die Stadt, zu der alle Wege in Mayo führen. Eine moskowitische Garnison an der sibirischen Grenze muß ähnlich aussehen, obwohl Castlebar, wie alle Städte in Mayo, ganz und gar aus Stein gebaut ist, mit Ausnahme der Lehmhütten der Ärmsten. Castlebar hat Straßen, ein Gerichtsgebäude, ein Gefängnis, eine Markthalle, eine Kaserne, die Häuser der wohlhabenden Kaufleute. Und doch wirkt alles provisorisch, hagere, schmale Gebäude, die sich angesichts der Endlosigkeit von Himmel und Land aneinanderkauern. Denn County Mayo durch seine Städte zu beschreiben, wäre völlig irreführend. Der Eindruck, den er als erstes in Auge und Geist hinterläßt, ist der von endlosem, ungastlichem Raum, von weitem, tristem Moorland im Westen von Crossmolina, von steilen und einsamen Landzungen und Halbinseln. Er hat seine eigene gewaltige und düstere Welt, während die benachbarten Counties Galway und Sligo einen zivilisierten Anblick bieten, der allerdings leider völlig irreführend ist.

      Er ist auch wenig bevölkert, wenn wir uns auf das beschränken, was wir in England als »County-Familien« bezeichnen würden. Wenn ich einen Morgen oder auch einen ganzen Tag ausritt, konnte ich als Nachbarn vielleicht fünfzig oder sechzig Familien des Landadels und des Fastadels zählen, letztere werden hier übrigens »Halb-Sirs« oder »Gentlemen mit Halbbesitz« genannt. In der Nähe, innerhalb der Grenzen von Killala und Kilcummin, hatte ich unter anderem Peter Gibson von The Rise, Captain Samuel Cooper von Mount Pleasant, George Falkiner von Rosenalis, meinen besonderen Freund, wie diese Aufzeichnungen zeigen werden, und, an der Straße nach Ballycastle, Thomas Treacy von Bridge-end House als Nachbarn. Weiter entfernt, nur über anstrengende Reisen auf elenden Straßen zu erreichen, standen die Häuser von George Moore von Moore Hall, Hilton Saunders von Castle Saunders, Malcolm Elliott von The Moat und etwa zwanzig anderen. Diese alle, mit Ausnahme von Moore und Treacy, gehörten zu meiner Pfarre, denn es gehört zu den bekanntesten Tatsachen über das Leben in Irland, daß die, die das Land besitzen, und die, die es bestellen, durch ihren Glauben streng voneinander getrennt sind, die Grundbesitzer sind fast allesamt Protestanten, die Pächter und Landarbeiter dagegen Papisten.

      So über unsere Baronie zu sprechen, bedeutet, ihr abwesendes Zentrum zu ignorieren, denn über unsere Baronie und die anliegenden Gebiete dominiert das Gut, überragend und auf den ersten Blick endlos, von Lord Glenthorne, dem Marquis von Tyrawley, oder, wie er hier mit einer dem Irischen entlehnten Bezeichnung genannt wird, »der Hohe Lord«. Diese Bezeichnung läßt an leichte Blasphemie denken, und Lord Glenthorne hat in der Beziehung mit unserem Schöpfer Ähnlichkeit, daß diese riesige Domäne zu seiner Verfügung steht, er jedoch beschlossen hat, sich nicht darauf aufzuhalten. Darin liegt nichts Ungewöhnliches, denn die ansässigen irischen Grundbesitzer sind in der Regel die kleineren, die etwa tausend Hektar oder weniger besitzen, während die Reichen fernbleiben, eine Tatsache, die viele für die Ursache unserer vielen Leiden halten. Lord Glenthorne hat beschlossen, sich niemals zu zeigen, nicht einmal zu kurzen Besuchen, und doch ist sein Platz in unserem Dasein so wichtig und überragend, daß er in der Rede der Bauern eine legendäre Größe erreicht hat, eine unergründliche Gestalt, jenseits von Gut und Böse. Ich wurde ihm in London vorgestellt, wo er mir als kleiner, milder Mann mittlerer Jahre erschien, von schlichtem, unaffektiertem Betragen, der seine religiösen Pflichten sorgsam befolgte. Viel später bin ich ihm ein zweites Mal begegnet, und bei dieser Gelegenheit erhielt ich einen klareren Eindruck von ihm und erkannte, daß er in jeder Hinsicht ein Herr war.

      Wer von hier nach Ballina reitet, reitet meilenweit an den Mauern seiner Hauptdomäne vorbei, an Mauern so hoch, daß ein Mann zu Pferde kaum über sie hinwegsehen kann, alle aus behauenem Stein. An einigen Stellen steigt die Straße an, und der Reisende kann in der Ferne, hinter schützenden Palisaden, die schöne Form von Glenthorne Castle sehen, eines riesigen Landsitzes, der durch einen Zauberspruch aus 1001 Nacht in dieses ungastliche Land getrieben sein muß. Und diese Illusion wird noch verstärkt, wenn sich der Reisende überlegt, daß dieser Palast, denn es ist ein Palast, einfach nur wartet, mit seiner Dienerschaft und zweifellos mit seiner Einrichtung von ungeahnter Pracht, auf einen Fürsten, der sich niemals dort aufgehalten hat. Als sein Vater, der die exotischsten und ehrenrührigsten Sagen über sich hinterlassen hat, tatsächlich ab und zu hier residierte, war das anders. Aber der Wanderer sieht nichts von Glenthorne Castle. Er sieht nur die hohen, endlosen Mauern, und wir müssen ihm vergeben, wenn er denkt, daß eine Armee oder Legionen von Sklaven, wie die, die die Pyramiden Ägyptens gebaut haben, sie errichtet haben müssen.

      Und es gibt diese Legionen. Als ich über die »Gesellschaft« von Mayo gesprochen habe, habe ich das Wort in der üblichen, aber unchristlichen Bedeutung benutzt, die alle ausschließt, die wir nicht sehen wollen. Wenn wir uns gestatten, auch die Bauern zu sehen und die vielen Landarbeiter, die noch viel elender sind als sogar die Bauern, dann leben wir nicht in einer einsamen Welt. Es ist eine reichbevölkerte, ja, sogar eine überbevölkerte Welt. Sie schwärmen wie die Bienen aus ihren Hütten, von denen die ärmsten aus Lehm gebaut sind, wie ein Kind am Flußufer bauen würde, und sie sind überall, denn sie stürzen sich auf jeden unbeanspruchten Hektar Land, der einen Grashalm oder ein Kartoffelbeet tragen kann, und die Hügel sind in Zickzacklinien aufgeteilt, durch Mauern, errichtet aus den Felsblöcken, die sie mit Händen weggeschafft haben, um jeden Zoll pflügbaren Bodens freizulegen. Einige wenige sind wohlhabend, wenn es auch ein unsicherer Wohlstand ist, Viehzüchter und starke Bauern und Mittelsmänner, aber wie steht es um die zahllosen Tausende ihrer Glaubensbrüder? Sicher fällt es auf, daß ich hier die übliche irische Praxis übernommen habe, gesellschaftliche und konfessionelle Trennungen zu verwechseln. Denn zweifellos gibt es hier zwei Welten, »unsere« kleine protestantische Welt des Wohlstands und ihre überbevölkerte papistische Welt der Not.

      Ich versichere aus ganzem Herzen, daß Unterschiede, die auf dem Glauben beruhen, mir