»Als wenn ich eins brauchte«, murrte Claudia.
»Jeder Mensch braucht einen Raum, wo er mit sich selber allein sein kann!« Susi, in ihrem ältesten weißen Kittel, eine Mütze aus Zeitungspapier auf dem blonden Haar, war dabei, einen Teil der Wand so gleichmäßig wie möglich mit Kleister zu bestreichen.
Helmut bestrich die Wand dort, wo Susi nicht mehr hinauflangen konnte; den Kleisterkübel hatte er ganz fachmännisch auf ein Brett gestellt, das auf den Sprossen seiner und einer anderen Leiter stand.
Claudia schlängelte sich an ihn heran. »Es ist nicht so, daß ich mich nicht über ein eigenes Zimmer freue, bloß . . . ich hab’ noch nie allein geschlafen, weißt du.«
»Du wirst dich schon daran gewöhnen.«
»Immer wache ich nachts auf, und dann ist es schön, wenn jemand da ist.«
»In den letzten Nächten hast du wie ein Murmeltier geschlafen.«
»Stimmt nicht. Immer hab’ ich gehört, wie du nach Hause gekommen bist.«
Helmut und Susi hatten eine Bahn mit Kleister bestrichen. Jetzt reichte Susi ihm eine zugeschnittene Tapetenrolle, die er behutsam oben an der Leiste anlegte, so daß sie mit der Längsseite genau an die Kante der schon tapezierten Fläche stieß. Beide bemühten sich, die Tapete glattzustreichen; Helmut bearbeitete sie mit dem Plastikroller von oben nach unten, um alle Luftbläschen zu vertreiben.
Claudia sah ihnen zu und überlegte. Es hatte keinen Zweck, weiter gegen ihre Ausquartierung zu protestieren. Damit brachte sie den Vater bloß gegen sich auf. Und sie wollte doch, daß er wütend auf Susi wurde. Sie mußte Susi dazu bringen, daß sie sich daneben benahm. Aber das war sehr schwer. Die Mutter zu reizen, war immer einfach gewesen. Die wurde schnell wütend und schnell wieder friedlich. Aber Susi Dinkler war immer gleichbleibend freundlich zu ihr, zum Vater, zu allen Leuten. Vielleicht lernte man das, wenn man den ganzen Tag hinter dem Ladentisch stand. Aber deshalb fand Claudia sie nicht netter. Sie roch ihr zu sehr nach Parfüm, und außerdem, stellte sie erbarmungslos fest, war ihr Haar gefärbt. Claudia hatte Susi Dinkler niemals besonders gemocht, aber sie hatte sich bisher nie um sie zu kümmern brauchen. Aber nachdem die Mutter ausgezogen war, war Susi plötzlich aufgetaucht und hatte so getan, als gehöre sie zum Vater. Dabei war sie früher einmal Mutters beste Freundin gewesen.
Claudia schlenderte durch das Zimmer und kletterte auf eine der Leitern. Ihr Vater wurde aufmerksam. »Was soll denn das?«
»Will bloß mal sehen, ob die Tapete auch keine Blasen wirft.«
»Das habe ich schon kontrolliert. Komm runter. Sonst passiert noch was.«
»Was soll schon passieren?« Noch während sie fragte, wußte Claudia die Antwort: der Vater hatte Angst, das Brett, auf dem der Kleistertopf stand, könnte ins Wackeln geraten.
Unbeirrt kletterte sie weiter und stieg von der Leiter auf das Brett.
»Also wirklich, Claudia!« sagte der Vater.
»Ich balanciere ja bloß!«
»Wir sind hier nicht auf dem Spielplatz. Komm runter.«
Claudia markierte mit weit ausgebreiteten Armen eine Seiltänzerin und näherte sich dem Kleistertopf.
»Toll kannst du das!« bewunderte Susi sie. »Aber jetzt ist es genug, ja?« Während sie noch sprach, spurtete sie vor, um den Topf festzuhalten. Beide erreichten ihn fast gleichzeitig – Susi mit der Hand und Claudia mit dem Fuß. Kein Kriminalist hätte nachträglich zu erklären vermocht, wie es passiert war: der Topf kippte um, die zähe Masse schwappte und ergoß sich vor Susi, die gerade noch zurückspringen konnte, auf den Fußboden und spritzte gegen ihre Beine. Der Topf klatschte hinterdrein.
Claudia schrie: »Sie sind schuld! Sie sind schuld! Ich war’s nicht, Vati, sie ist selber schuld!«
»Zum Donnerwetter, warum mußtest du denn auch . . .!?« brüllte Helmut.
Claudia brach in Tränen aus und lief, hoch auf dem Brett, zu ihm hin. »Ich war’s ja gar nicht, Vati! Sie hat’s getan!«
Susi Dinkler behielt die Fassung. »Ganz gleich, wer’s nun getan hat, so schlimm ist es ja gar nicht!« Sie stellte den Topf auf und versuchte mit dem Kehrblech so viel wie möglich von dem herausgelaufenen Inhalt hineinzuschaufeln. »Ein Kleisterpott, was ist das schon! Wenn’s nicht mehr reicht, dann rühren wir eben neuen an.«
Claudia warf sich schluchzend in die Arme ihres Vaters.
»Paß bloß auf!« warnte er. »Beinahe hättest du mich auch noch umgeworfen.« Er packte sie um die Taille und setzte sie auf den Boden. »Wenn du schon nicht helfen willst, dann laß uns lieber allein.«
Sie klammerte sich an seine Beine. »Aber, Vati, ich sage dir doch . . . ich habe nicht . . . «
»Hau ab! Du hast genug angerichtet!«
Sein Ton war so böse, daß Claudia aufgab. Mit hängendem Kopf, die mageren Schultern gesenkt, zog sie ab.
»Das arme Ding!« hörte sie Susi hinter sich sagen. »Sie tut mir ja so leid!«
Claudia wußte, daß sie diese Schlacht verloren hatte.
Ein paar Tage später war das Zimmer bewohnbar, die Decke war gestrichen, die Wände waren neu tapeziert. Susi Dinkler hatte hübsche rosa Vorhänge für das Fenster genäht. Die neuen – alt gekauften – Möbel standen an ihrem Platz, und nur noch der abgewetzte Teppich erinnerte an das ehemalige Kinderzimmer.
Susi Dinkler erzählte Claudia immer wieder, wie hübsch sie es hier hatte und wie viele kleine Mädchen sie um ein eigenes Zimmer, ein solches Zimmer, beneiden würden.
Claudia bedankte sich höflich, wenn auch freudlos. Am Abend ließ sie sich brav schlafen schicken. Aber mitten in der Nacht erschien sie im ehemaligen Elternzimmer, lautlos und barfuß. Ihr Vater, der gerade im Begriff gewesen war, einzuschlafen, wurde wieder wach.
»Was ist los?« fragte er ungehalten und tastete nach dem Wekker auf seinem Nachttisch. »Es ist zwölf vorbei! Du solltest längst schlafen!«
»Hab’ ich ja auch, Vati«, sagte sie kläglich. »Aber ich habe einen so scheußlichen, schrecklichen Traum gehabt.«
»Einen Traum . . . na und? Du weißt doch, daß ein Traum nichts zu bedeuten hat.«
»Ich habe Angst, Vati!«
In dem schwachen Licht, das aus der Diele in das Schlafzimmer fiel, sah er nur die Umrisse ihrer dünnen Gestalt in dem zu kurz gewordenen Nachthemdchen. Er hätte sie gern tröstend in die Arme genommen, aber er wußte, wenn er einmal nachgab, würde sie unter diesem oder einem anderen Vorwand immer wieder zu ihm kommen, und das durfte nicht sein. Wenn er seine Frau schon verloren hatte, wollte er wenigstens seine Freiheit genießen und sich nicht von einem kleinen Mädchen beherrschen lassen.
»Kein Grund zur Angst«, erklärte er nüchtern. »Die Wohnungstür ist abgeschlossen, die Sicherheitskette liegt vor, es kann nichts passieren.«
»Darf ich trotzdem zu dir ins Bett kommen? Nur für ein paar Minuten? Bis ich mich beruhigt habe?«
Sie zitterte.
»Beruhige dich lieber in deinem eigenen Bett.« Er drehte sich zur Seite. »Ich möchte schlafen.«
»Aber ich würde dich doch nicht stören! Ich würde . . . ganz still sein . . . mich gar nicht rühren . . . «
»Sei so gut und verschwinde! Ich muß morgen früh raus und brauche meinen Schlaf!«
»Vati, bitte!«
»Ab in die Klappe! Oder muß ich dir erst ein paar hinten draufgeben?!«
»Also gut. Wenn du es verlangst.« Claudias Stimme klang eingeschnappt. »Aber ich werde kein Auge zutun.«
»Macht nichts. Hauptsache, du störst mich nicht.«
»Du