Die »Innovationen« Augustins, insbesondere die Möglichkeiten, die er dem Leben bietet, geschichtlich zu werden – immer mit der wesentlichen Glückseligkeit verknüpft –, rufen bei Arendt nacheinander Zustimmung und Verlegenheit hervor. So impliziert der Durchgang des Menschen durch die Geburt (generatione) Gleichheit, Vielfältigkeit, Abstammung, sündige Natur, Tod, kurz ein Aufsichnehmen der »menschlichen Gattung« und zerbricht völlig die Autarkie des Hellenismus. Mehr noch erhält der Begriff des »Nächsten«, der aus dieser menschlichen Gattung hervorgeht, einen neuen Sinn, der vor Augustin nicht explizit gegeben war: Die von Geburt an sündige Gleichheit wird ein frei gewähltes Miteinander, das erneut für jeden zwingend ist. Über den Umweg der Bibel, Adams und des Schöpfers skizziert Augustin nach Arendt eine Möglichkeit des Lebens in der Welt, die nicht nur ein »Geworfensein« in die Fremdheit ist. Hier setzt eine implizite Diskussion mit Heidegger ein, die in den späteren Arbeiten Arendts deutlicher wird: Dabei handelt es sich um ein vertrautes Leben, das durch die Verwandtschaft in der generatione die Frage des Anderen als »neues Leben« stellt und an die extremste Vergangenheit erinnert, den Tod und das Außerweltliche. Die Verbindung der »alten Gemeinschaft« (societas) mit diesem »Anderen«, wird sie möglich sein? Oder unmöglich? Wird sie anders sein als in der Anonymität des »Man«, nämlich in gegenseitiger, die wechselseitige Abhängigkeit auflösender Liebe (diligere invicem)?
Jahrhundertelang ist die katholische Theologie dem von Augustin eröffneten Weg gefolgt, den Arendt in ihrer Weise evoziert und entwickelt. Der Welt fremd, lebt der Mensch weiter in der Welt: Dem anderen vertraut und gleich, kann er sich ihm nur verbinden, indem er das alte Leben zugunsten eines neuen LEBENS in Christus auflöst. Die »neue Gemeinschaft« des Lebens wird möglich, gleichwohl nur im Leiden (durch Übertreibung der Zugehörigkeit zum Körper Christi’) und in der Isolierung (bei der der andere nur die Funktion eines »Übergangs« in der unmittelbaren und einsamen Beziehung zu Gott einnimmt). So gelebt ist das Leben eine ständige Alteration des Menschen, eine Sorge, die sich aus der Tatsache ergibt, daß er selbst und seine Nachkommen in Gefahr sind, aber auch daraus, daß die Personen durch die Gnade gerettet werden können, dank der Vermittlung einer gemeinsamen Sorge um den Nächsten in einem Leben der Liebe: volo ut sis. Dieses Leben als Alteration, dieses Leben als Verdopplung, das von der Lektüre Arendts erneuert wird, erweist sich der historischen Versprechen und Verwirklichungen fähig unter der Bedingung, daß es sich nicht von den wesentlichen Sorgen trennt. Indem sie den »Knoten«, die doppelte Zugehörigkeit des menschlichen Lebens zur »menschlichen Gattung« und zu einem »neuen Miteinandersein« in einem Leben der Liebe betont, bereitet die Studentin ihr kommendes politisches Denken vor. Der christlichen Philosophie entliehene Begriffe, die in der Antike unbekannt waren, wie die des »Versprechens« und des »Verzeihens«, welche sie später entwickeln wird, werden ihr in ihrem ganzen Werk als Bezugspunkt und politische Hypothese dienen.
Man ist also versucht, in diesem Jugendwerk und in der entwickelten Komplexität des Begriffs des Lebens nach Augustin nicht nur die Verarbeitung der »Lieben« zu sehen, die Hannah Arendt in dieser Periode ihres Lebens durchlebt – und in deren »Schatten« (1925) ihre Qual zum Ausdruck kommt –, sondern auch den Keim ihrer späteren Überlegungen. Als die entsetzliche Aktualität des Nazismus und des Stalinismus sie dazu bringt, die sozialhistorischen Ursachen des Totalitarismus zu denken79, wird sie zu den Logiken des Lebens unter den Begriffen der conditio humana zurückkommen, um eine Hierarchie in der Verknüpfung menschlicher Erfahrungen aufzustellen: vita activa einerseits, vita speculativa andererseits, und innerhalb der ersten, drei Typen von Tätigkeit: Arbeit, Werk, Handeln.
Arendt stützt sich auf das Leben des Denkens und kritisiert die metaphysische Tradition, die das kontemplative Leben auf Kosten des aktiven Lebens privilegiert. Sie bemüht sich, letzteres aufzuwerten, wobei sie geltend macht, daß die Tätigkeit das Leben sichert. Dabei ist Vita activa80 auch Anlaß zu einer heftigen Ablehnung des Begriffs des »Lebens« als nihilistischer Wert par excellence. Sie verurteilt heftig den vitalistischen Aktivismus, der den homo faber vergöttlicht, ihn aber letzten Endes in die Robotisierung einer »berechnenden«, jedoch nicht »denkenden« Erkenntnis einschließt. Als Echo auf Augustins Betrachtung über das »vernachlässigbare« Leben, sofern es nicht in der Liebe des beate vivere und des summum esse verstanden ist, kritisiert Arendt die Konsumideologie, in der das menschliche Leben versinkt, wenn es das Bleibende vergißt.81 Sie verurteilt den Kult des »individuellen Lebens« und mehr noch den des »Lebens der Gattung«, das sich als modernes höchstes Gut durchsetzt, jedoch ohne Rückgriff auf irgendein Streben nach Unsterblichkeit. Diese wird durch den Lebens-«Prozeß« ersetzt, der sich als nihilistischer Grundwert aufrichtet. Im Laufe der langwährenden paradigmatischen Veränderung, die von der Technik und der Wissenschaft gestützt wird, richtet sich Arendt ganz besonders gegen Marx, der die Menschen naturalisiert, indem er nahelegt, daß »der Denkprozeß selbst ein Naturprozeß«82 geworden ist. Sie verschont aber auch nicht die Verbissenheit der Wissenschaftler, die den Triumph des animal laborans unter der Maske einer Sakralisierung des Lebens an sich, ohne jeden Bezug zum Anderen, sichern.
Diesen Entgleisungen stellt Arendt ein »spezifisch menschliches« Leben entgegen: Der Ausdruck bezeichnet das »Intervall zwischen Geburt und Tod« unter der Bedingung, daß es durch eine Erzählung dargestellt und mit anderen Menschen geteilt werden kann. Eine großartige Umgestaltung ihrer Jugendlektüre Augustins, gestützt auf ihre spätere politische Erfahrung als Philosophin und Frau kündigt sich wie folgt an: »Das Hauptmerkmal des menschlichen Lebens, dessen Erscheinen und Verschwinden weltliche Ereignisse sind, besteht darin, daß es selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte, die jedem menschlichen Leben zukommt und die, wenn sie aufgezeichnet, also in eine Bio-graphie verdinglicht wird, als ein Weltding weiter bestehen kann. Von diesem Leben, von dem bios zum Unterschied von zoe, hat Aristoteles gemeint, daß es ›eine praxis ist‹«.83 Die Möglichkeit, sich Geburt und Tod vorzustellen, sie in der Zeit zu denken und sie dem Anderen mitzuteilen durch das Teilen mit den anderen – kurz, die Möglichkeit zu erzählen – legt den Grund für das Spezifische, nicht Tierische, nicht Physiologische des menschlichen Leben. Arendt rehabiliert die Praxis des Erzählens, indem sie sich implizit auf Nietzsches Begehren nach Leben im »Willen zur Macht« bezieht, und auf die Interpretation Nietzsches durch Heidegger, der den Biologismus dieses »letzten Metaphysikers« im Sinne der Gelassenheit des poetischen Sagens umdeutet. Die Politologin verwirft den ruhigen Rückzug des poetischen Werks, denn für sie vollenden allein das Handeln als Erzählung und die Erzählung als Handeln das Leben in seinem »spezifisch Menschlichem«. Diese Auffassung, deren aristotelische Herkunft wir weiter unten betrachten werden, verschmilzt das Schicksal