Wenn es im Sein beharren will.91
Am Kreuzweg dieser Anleihen und Umdeutungen entfaltet sich auf diese Weise die Arendtsche Auffassung vom Leben und von der Geburt – nicht als biologisches Experiment, sondern als höchste Erfahrung des erneuerbaren Sinns. Mit ihrem wiederholten Gesang vom »Wunder der Geburt«, bei dem sich der Zufall des Anfangs und die Freiheit der Menschen, sich zu lieben, zu denken und zu urteilen, miteinander verbinden, hinterläßt uns Arendt als kinderlose Frau eine moderne Version der jüdisch-christlichen Liebe zum Leben.
Dieses Denken wird uns angeboten, um geteilt zu werden, und wir können sicher sein, daß es geteilt wird: insbesondere von anderen Frauen, egal, ob »Philosophinnen«, »politische Theoretikerinnen« oder nicht. Tatsächlich bietet die relative Befreiung der Frauen in der Gegenwart diesen die Möglichkeit, ihre Mutterschaft besser zu denken, als sie es seit uralten Zeiten tun konnten. Die Bewährungsprobe der Mutterschaft in der realen Gegenwart des Neugeborenen, dem die Frau ihr Sein überträgt, erfüllt sie keineswegs, sondern macht sie verletzlich, verändert sie. Diese Bewährungsprobe verbindet die Mutter mit ihrem Kind durch eine einzigartige Bindung, die in der menschlichen Existenz nicht ihresgleichen kennt: Denn es handelt sich nicht um das Begehren eines Gegenstandes (oder eines Subjekts), sondern um eine Liebe für den anderen. Die mütterliche Liebe ist vielleicht die Morgenröte der Beziehung zum anderen, die der Liebende und der Mystiker später wiederentdecken. Die Mutter kann deren erste Erkunderin sein, wenn sie nicht den Abrechnungen mit ihrer eigenen Erzeugerin erliegt, vermittelt über ihren Sexualpartner. Außerdem ist dieser andere kein Erwählter, sondern ein »X-beliebiger«92: Keineswegs überlegen, sondern einfach nur neu, setzt sein Leben dramatisch und oft tragisch ein und enthält ein Moment unserer Begegnung mit dem Tod. Ließe sich diese Bewährungsprobe denken – wie Arendt uns auffordert –, könnte sie aus den Frauen der kommenden Jahrhunderte die Wächterinnen der Möglichkeit des Lebens selbst machen.
Versuchen wir also, den Begriff des Lebens im Arendtschen Sinn zu verstehen. Nicht als ein »Überleben der Gattung« (die man uns – mittels der Leistungen der Wissenschaften, die künstliche Mittel und diverse »Klonierungen« erfinden – mit zeugenden Frauen als ebenso möglich ankündigt wie ohne sie); verstehen wir es eher als Liebe für den Beliebigen, den Nächsten, der ebenso zerbrechlich ist wie ich angesichts des Todes und der durch meine Liebe als Frau und Mutter ständig den unerschöpflichen Sinn der vielfältigen Lebensweisen erfindet, die er mir als Gegenleistung zum Geschenk macht.
Dank Empfängnisverhütung, Abtreibung und Techniken künstlicher Zeugung schützen sich die Frauen heute gegen das Schicksalhafte von Fruchtbarkeit oder Sterilität; sie können ihre persönliche Entwicklung verwirklichen und ganz teilhaben an der modernen Zeit, in der die conditio humana von der Wissenschaft beherrscht und den transzendentalen Gesetzen entzogen ist. Dennoch verhindert dieses Eintauchen in das wissenschaftliche Zeitalter nicht – ganz im Gegenteil – das Begehren nach Zeugung und Mutterschaft. Selbst wenn es mitunter den Aspekt eines Willens nach Besitz annimmt, so bleibt dieses übertriebene, ja übersteigerte Begehren nach Mutterschaft analysierbar und in der Lage, in den nunmehr entsakralisierten menschlichen Angelegenheiten die Sorge um den Anderen in der Liebe zum anderen zu verkörpern. Eine Liebe, die mit jeder Geburt neu beginnt und durch den Vater hindurch in der mütterlichen Angst ihren Sinn des ständigen Fragens wiederfindet. Diese zielt nicht auf eine Ewigkeit im Jenseits, auf ein transzendentes summum esse; sondern auf den un-endlichen Sinn des Nächsten hierselbst, mein ganz anderer, mein völlig Gleicher, der Beliebige. In diesen psychischen Winkeln der mütterlichen Liebe glänzen noch die letzten Schimmer des Heiligen, das der homo religiosus dem homo laborans zu übermitteln vermag, der ihn allerdings mehr und mehr verschlingt. Damit das zur Welt kommende Sein ein sprechendes und denkendes Sein werden kann, macht sich die mütterliche Psyche zum Übergangsort von zoe zu bios, von der Physiologie zur Biographie, von der Natur zum Geist. Gelänge es den Frauen, das vom Judeo-Christentum hinterlassene Testament zu leben und zu denken, könnte dieses gerettet, singularisiert und modernisiert werden.
In dem Maße, wie die Psychoanalyse ein heterogenes Subjekt befragt – Trieb und Sinn, Unbewußtes und Bewußtes, Somatisches und Symbolisches –, befindet sie sich an der gleichen Grenze und trägt dazu bei, gemeinsam mit der mütterlichen Begleitung und anders als sie, die Frage des Lebens als Sinn, des Sinns als Leben offen zu halten. Indem sie die psychischen Funktionen eines jeden Individuums angesichts von Geburt und Tod entfalten, indem sie die Strukturen und Dramen des Familiendreiecks analysieren und seine Konsequenzen für die psychische Sexualität und die singulären Denkstrategien eines jeden Subjekts kennen, bewahren die Analytiker in der Fortdauer der menschlichen Gattung die Bestimmung des Individuums, sinnbildend zu sein.
Die mütterliche Liebe für das beliebige Leben – und nicht die Fortschritte der vitalistischen Technik, mit denen diese Liebe sich umgeben kann, noch umgekehrt die vergangenheitszugewandte Ablehnung dieser Fortschritte durch den Konservatismus jener Religionen, die geradezu wild auf Geburtenförderung sind – ist in der Lage, unsere conditio humana als Wesen zu garantieren, die sich Sorgen machen um den Sinn, da zu sein. Unter diesem Blickwinkel und unter Berücksichtigung der Bedrohung, die auf ihm lastet (ein Leben, das manche in »aller Freiheit« technisch reproduzieren möchten, während andere es aus religiösen Gründen ohne jedwede Freiheit aufzwingen wollen), könnte man vorhersagen, daß das Leben im Arendtschen Sinn weiblich oder gar nicht sein wird. Selbstverständlich erlaubt die psychische Bisexualität, wie die Psychoanalyse sie in jeder Person entdeckt, anzunehmen, daß ein Mann diese Weiblichkeit auf sich nehmen, ja sogar die als Spannung der Liebe zwischen zoe und bios definierte Mutterschaft erfahren kann. Und dies wird so lange möglich sein, bis die Technik die Drohung des Todes beseitigt haben wird: Doch wird das je möglich sein?
Es ist bezeichnend, daß eine Frau, eine jüdische Frau, Hannah Arendt, im Schatten der Shoah die Initiative ergriffen hat, die Frage der Geburt neu zu stellen, indem sie der Freiheit zu sein einen neuen Sinn gegeben hat. Dies ist der größte Glanz ihres Genies, das die Krise der modernen Kultur in ihrer Mitte trifft, dort, wo sich ihr Schicksal auf Leben und Tod entscheidet.
59Handschriftl. Gutachten zur Dissertation von Hannah Arendt (1928) aus dem Nachlaß von Karl Jaspers, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar, Handschriftenabteilung.
60Brief Nr. 389 vom 16. Januar 1966, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, a. a. O., S. 657-658
61Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin – Versuch einer philosophischen Interpretation. Philosophische Forschungen, hg. v. Karl Jaspers, 9. Heft, Berlin 1929, S. 20
62Ebd., S. 11-12
63Zum Beispiel in Vita activa, a. a. O., S. 309-310
64Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 32
65»Transibo ergo et istam vim naturae meae gradibus ascendens ad eum qui fecit me; et venio in campos et lata praetoria memoriae.« Vgl. Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 33
66Ebd., S. 35
67Ebd., S. 42
68Ebd., S. 46
69Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 290 ff.
70Hannah Arendt, Der Liebesbegriff bei Augustin, a. a. O., S. 52
71Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1986, § 43: »Dasein, Weltlichkeit und Realität«.
72So im Text von 1942 über »Hölderlins Hymne ›Der Ister‹«: »Wir wissen heute, daß die angelsächsische Welt des Amerikanismus entschlossen ist, Europa, und d.h. die Heimat, und d.h. den Anfang des Abendländischen, zu vernichten. Anfängliches ist unzerstörbar. […] Der verborgene Geist des Anfänglichen im Abendland wird für diesen Prozeß der Selbstverwüstung des Anfanglosen nicht einmal den Blick der Verachtung übrig haben, sondern aus der Gelassenheit der Ruhe des Anfänglichen auf seine Sternstunde warten.« (Vgl. Martin Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. 53,