1969 veröffentlicht Arendt »Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt«, einen Text, der »den Wind seines Denkens« und seiner Gefahren lobt, jedoch unter der Hommage den Hinweis auf den skandalösen Kompromiß von Denkern wie Platon und Heidegger mit Tyrannen und Diktaturen kaum versteckt. Im Lauf der Jahre bemüht sich Arendt, das Denken Heideggers in den Vereinigten Staaten zu verteidigen und bekannt zu machen. Sie widersteht den gegen ihn gerichteten Angriffen und entwickelt ihr eigenes Werk in enger Beziehung zu dem ihres Lehrers: »…es […] schuldet Dir in jeder Hinsicht so ziemlich alles«, schreibt sie ihm anläßlich der Vita activa34, und auf einem getrennten Blatt, das sie nicht abschickt, heißt es: »Re Vita activa: / die Widmung dieses Buches ist ausgespart. / Wie sollte ich es Dir widmen, / dem Vertrauten, / dem ich die Treue gehalten / und nicht gehalten habe, / Und beides in Liebe.«35 So wie sie zuvor die »Falle« des »Fuchses« befragte.36
Treu und untreu: So entdecken wir sie, ihrer intellektuellen Erfahrung folgend. Als Kontrapunkt zur Einsamkeit des Daseins entwickeln die Schriften von Arendt ein Denken des Lebens und der Tat, das bescheiden scheinen mag, verglichen mit dem Ruhm des Seins in seiner Lichtung. Nichtsdestotrotz bleibt das Arendtsche Abenteuer kühn verglichen mit den Sackgassen des »professionellen Denkers« und seines »Werkes«, wenn diese wagen, sich der Pluralität der Welt zu stellen.
Im Augenblick jedoch befinden wir uns im Jahre 1933: Das Leben der jungen Philosophin verschmilzt mit der Geschichte ihres Volkes und der Völker des zwanzigsten Jahrhunderts, ohne daß Hannah aufhört, die Existenz einer begehrenden, ihre Leidenschaften erzählenden Frau zu führen. Sie gesteht sie indirekt, wenn sie von den Leidenschaften Rahels37 berichtet. Schließlich werden sie Teil einer einzigartigen Mischung von Selbstverleugnung und Sublimierung in ihrer Meditation der conditio humana. Ihre intellektuelle Erfahrung offenbart sich schlicht als durchdachtes Leben, das heißt als durch die Arbeit, das Werk und vor allem das Handeln der Biologie entrissenes Leben, in dem jene höchste Form der menschlichen Existenz – das plurale und unvollendete Denken – gipfelt: wenn, und nur wenn es in einer vielfältigen und widersprüchlichen Welt geteilt wird. »Die Welthaftigkeit der Lebewesen bedeutet, daß kein Subjekt nicht auch Objekt ist und als solches einem anderen erscheint, das seine ›objektive‹ Wirklichkeit gewährleistet.« Und in Vom Leben des Geistes schreibt sie, daß die »Mehrzahl […] das Gesetz der Erde« sei.38
Arendt begegnet Heinrich Blücher (1899–1970) zu Beginn des Frühlings 1936 in Paris. Man kann beim Lesen ihrer Skizze des Porträts von Leo Jogiches, des Gefährten von Rosa Luxemburg, erraten, wie sie ihn wahrnimmt: »In Rosa Luxemburgs Augen war er entschieden masculini generis, was für sie von großer Bedeutung war. […] in einer Ehe ist es nicht immer einfach, die Gedanken der einzelnen Partner auseinanderzuhalten.«39 Schwer einzuordnen, war Blücher nacheinander: Kommunist, Spartakist, verhinderter Revolutionär, Freund von Kurt Blumenfeld, zionistischer Parteigänger, ohne Jude zu sein. Die Biographen stimmen jedenfalls darin überein, ihn als einen Anarchisten zu definieren. Zweimal verheiratet, bevor er Hannah heiratet, Autodidakt mit weiter politischer und künstlerischer Bildung, wird dieser Drahtzieher – ein Beruf, den er gern in seinen Ausweisen angab – in den Vereinigten Staaten Philosophieprofessor. Blücher – »masculini generis« – vervollkommnete die politische Bildung Hannahs, indem er ihr Marx und Lenin zu lesen gab, aber vor allem erlaubte er ihr, ihr Gefühlsleben zu stabilisieren und sich ganz dem Denken zu widmen, doch stets in Kontakt mit der Welt des Lebens, wie der Briefwechsel40 der beiden Liebenden, die bald Ehegatten sein sollten, zeigt. Fand der strippenziehende Bohemien einen Gleichklang mit dem kleinen überschwenglichen Mädchen von vor dem Tod ihres Vaters? Unser Kind erzählt, daß sie zu ihrem sechsten Geburtstag ein Puppentheater bekommen hatte. Das kleine Mädchen hatte ein so kompliziertes und leidenschaftliches Schauspiel erfunden, daß es mit einem Tränenausbruch endete!
Heinrich Blücher war überaus vielseitig und einfallsreich – eine Zeitlang war er Assistent des von Adler beeinflußten Psychoanalytikers Fritz Fränkel gewesen und rühmte sich, eine depressive Hysterikerin ohne irgendeine Interpretation geheilt zu haben: Er hatte einfach das Bett, von dem die Kranke sich angeblich nicht erheben konnte, mit Kerosin übergossen und angezündet. Ebenso wirksam gelang es Blücher, wie es scheint, die berühmten morgendlichen Melancholien von Hannah zu heilen, die einst ihre Mutter in Angst versetzten: Er achtete überhaupt nicht auf sie, sondern schlief skrupellos weiter. Die Krankheit als Erpressung der Mutter: Blücher machte sich nichts vor. Wie man weiß, hat Hannah Arendt indessen die Psychoanalyse zeit ihres Lebens verachtet …
Arendt gelingt es, nach fünf Wochen aus dem Lager von Gurs zu fliehen, in dem sie gemeinsam mit den »Ausländern deutscher Herkunft« interniert war, worauf sie Blücher 1940 in zweiter Ehe heiratet. Der fehlende Mann, dessen »Schatten« die Kindheit und Jugend der jungen Hannah verdunkelte, ist endlich wiedergefunden. Fremd, Fremder: Nicht-Jude, Deutscher und Proletarier, war das nicht die Voraussetzung, sie nicht zu erdrücken, die Entfaltung ihrer eigenen Männlichkeit, aber auch ihrer wahren Weiblichkeit zu ermöglichen?
»… ich habe immer gewußt – schon als Gör –, daß ich wirklich nur existieren kann in der Liebe. Und hatte gerade darum solche Angst, daß ich einfach verloren gehen könnte. […] als ich Dich dann traf, da hatte ich endlich keine Angst mehr […] Immer noch scheint es mir unglaubhaft, daß ich beides habe kriegen können, die ›große Liebe‹ und die Identität mit der eigenen Person. Und habe doch das eine erst, seit ich auch das andere habe. Weiß aber nun endlich auch, was Glück eigentlich ist.«41 Die Liebe und das Vertrauen lösen die archaische Angst auf, die Hannah seit dem Tod ihres Vaters gefangenhielt und die das Verhältnis mit Heidegger keineswegs erleichterte, sondern vielmehr verschärfte. In einer Mischung aus schamhafter Zurückhaltung und Aufrichtigkeit drückt Hannah Arendt ihr sinnliches und persönliches Aufblühen aus, worauf der Liebende antwortet: »Ich habe Dir gezeigt, was Glück ist? Ich mache Dich glücklich wie Du mich? Denn Du bist doch mein Glück, also habe ich Dir etwa Dich gezeigt? Du wurdest die Du bist? Ich auch. Ich habe Dich also, mein Kleines, aus einem Mädchen zum Weib gemacht? Wie wunderbar – wie habe ich das bloß gemacht, denn ich wurde ja erst durch Dich richtig zum Mann.«42 Ein Jahr zuvor hatte er zärtlich seine Achtung ihr gegenüber zum Ausdruck gebracht: »Ja, natürlich sollst Du mir alles zumuten, was Du Dir zumuten kannst, und sollst mich so behandeln, wie Du Dich behandelst – nur sollst Du Dich eben etwas besser behandeln; das aber will ich wenigstens tun: Dich etwas besser behandeln als Du Dich selbst. Bedaure mich nicht wegen der 10 Jahre usw. Ich weiß, was ich habe und was Du als Frau bist und weiter sein und weiter werden wirst, laß das doch mich beurteilen, denn was kannst Du davon schon wissen.«43 Und sie: »Und bei der Liebe der andern, die mich für kalt erklärten, dachte ich immer: habt ihr’ne Ahnung, wie gefährlich das ist und für mich wäre.«44 Oder er, wiederum die beiden Seiten seiner Frau hervorhebend: »So habe ich beides, ich habe Dich so unabhängig und frei, wie ich Dich als Mensch mag, und ich habe Dich so abhängig, wie ich Dich als Weib will.«45 Trotz mütterlicher Mißbilligung – oder gerade deswegen? – ist Hannah überglücklich: Dem wunderlichen Blücher gelingt es, Geliebter, Freund, Gatte, Bruder und Vater zu sein. Als er stirbt, wünscht sich Hannah für ihn, der nicht Jude war, ein Begräbnis mit Kaddisch.
Frei und unabhängig gründen Blücher und Arendt die Beziehung auf ihre sexuelle und intellektuelle Autonomie und zugleich auf eine tiefe Übereinstimmung. Stets betonen sie, wie glücklich diese Wahl ist, ungeachtet ihrer Gefahren und Schwierigkeiten. Trotzdem verletzen die Frauenbeziehungen Blüchers Hannah, der es jedoch gelingt, sich zu beherrschen und an das Wesentliche zu halten. »Meine Schöne, welches Glücksgeschenk, ein Gefühl zu haben, von dem man so stark