Ein anderer Aspekt des Lebens kündigt sich hier an: ein Leben, das nicht das ewige LEBEN ist, sondern das Leben, das hinzukommt in und durch die Geburt. Die »Geburt« (ein häufig wiederkehrendes Arendtsches Thema) ist Trägerin der Zeit und von der Zeit getragen. Das Leben zwischen Geburt und Tod »verbiegt« in der Ewigkeit des Seins eine »Welt« (mundum), in der sich das Leben als Werk unseres Willens entfaltet: »… aus der Vorgegebenheit der Schöpfung macht der Mensch die Welt und macht sich selbst zu einem der Welt Zugehörigen.«67
Halten wir die neue Definition des Lebens fest: Das Leben konstituiert die Welt; zur Tatsache, daß der Mensch im Sein geboren wird, dieses bewohnt und liebt, kommt eine zusätzliche Dimension hinzu: die Dimension des Anfangs und des Tuns. Ausgehend vom göttlichen principium führt das menschliche initium zu Geburten und Taten. So verstanden verwandelt das Leben die »Schöpfung« in »Welt«: Gewiß adoptiert das Geschöpf die Welt, mehr noch aber gründet es sie; es findet sie bereits vor (invenire), aber macht sie auch (facere). Aus dieser fruchtbaren Verdoppelung taucht für das menschlichen Dasein die Möglichkeit auf, sein eigenes Sein zu befragen.
Von Arendt aus Augustin abgeleitet, ergibt sich ein neuer Reichtum des Lebens. Als Anfang ist die Geburt auf das zuvor (ante) bezogen, und über sein Ende im Tod hinaus kündigt der liebende Lebende die künftige Dauer an (im Sein, im Ewigen). Das heißt, die Geburt des Menschen bringt ebenso sehr die Zeit wie die Nichtübereinstimmung mit dem Sein hervor, die Quelle von Fragen sind: »Damit ist aber das menschliche Leben wieder hereingestellt in die Umschlossenheit von der Welt und nicht gesehen in dem Zugleichsein mit der Welt. Denn dem post mundum des Entstehens entspricht das Weiterdauern nach dem Vergehen.«68 Dieser neue Sinn des Lebens sei hier betont: Nicht mehr ewiges Glück noch Wiedererinnerung an das Sein Gottes in der Glückseligkeit des Liebenden, ist das Leben von nun an eine Frage. Begrenzt durch das »noch nicht« und das »bereits nicht mehr«, überschreitet das bei der Geburt gegebene Leben, indem es sich befragt, die Welt. Questio mihi factus sum – »Ich bin mir selbst zur Frage geworden«: Die Augustinische Formulierung, die Arendt bis Vom Leben des Geistes69 erkundet, fällt mit dieser Erfahrung der Liebe zusammen, die gleichzeitig mit dem Willen und der Interiorität des Menschen entsteht. Sie tendiert zum Sein (tendere esse), und aus dieser Spannung konstituiert sich das Geschöpf »noch einmal«, nachdem es vom Schöpfer geschöpft worden ist. Nachdem es so vom Sein zum Sein, von Ewigkeit zu Ewigkeit schreitet, hebt das Leben seinen Grenzcharakter auf.70
Man erkennt hier die Anstrengung Arendts, Augustin lesend den Gegensatz objektiv – subjektiv zu überwinden und die menschliche Freiheit nicht in einer inneren psychischen Disposition festzumachen, sondern im Charakter der menschlichen Existenz in der Welt selbst. Das dem principium folgende initium ist Kennzeichen dieser vorsubjektiven Determination menschlicher Freiheit als »Selbstanfang«, so wie ihn Kant definierte: Weil es einen Anfang gibt, kann der Mensch anfangen; und indem er beginnt, geboren zu werden, bestimmt er sich zu erneuerbaren Geburten, die ebenso viele Akte der Freiheit sind. Die Seiten Heideggers über die »Weltlichkeit« des Daseins sind der Hintergrund für diese Lektüre Augustins71, ebenso wie seine Ausarbeitung über das »Anfängliche«. Arendt läßt sich von ihnen anregen, verleiht jedoch dem Beginn und der Geburt Konnotationen, die dem liebenden Christentum Augustins näherstehen und radikal vom abendländischen Patriotismus der späteren Polemik Heideggers abweichen.72
So neu sie im Verhältnis zum antiken Denken ist, so bleibt die Einführung von Geburt und Tod bei Augustin dennoch einerseits weiterhin im Rahmen einer absoluten Aufwertung des ewigen auf Kosten des gegenwärtigen Lebens. Der Ablauf des Lebens hat keine wirkliche Bedeutung gegenüber der Versöhnung mit der Ewigkeit des Seins in der Glückseligkeit. Die »vorchristliche Sphäre des Denkens Augustins« verlassend, die von Neuplatonismus und hellenistischer Autarkie abhängt, bemüht sich die Philosophin nachzuweisen, daß eine neue Orientierung der Augustinischen Überlegung sich abzeichnet, deren Quelle nicht mehr griechisch, sondern biblisch ist: Es geht um eine andere Logik, die den Schöpfer integriert.
Dieser schöpfende Gott ist nicht mehr kosmisches Wesen, sondern, obwohl sich anthropomorph verhaltend, der andere der Kreatur, der zwar in Liebe wählt, aber auch fordert und verbietet. Von nun an ist das Gesetz im Herzen des Menschen als Autorität eingeprägt, die befragt und somit die vorangegangene Frage, auf die wir stießen, erneut stellt: Das Leben, das sich nicht befragt, das Leben in der Gewohnheit erscheint nunmehr nach biblischem Denken als »wahre Sünde«, mehr als irgendein Begehren. Wenn andererseits das Gesetz die Welt verbietet (»Du sollst nicht begehren«), so stellt sich Gott gegen das Leben in der Welt und die Kreatur in der Welt entsprechend gegen Gott. Die Autorität Gottes ist ständig in diesem Gegensatz gegenwärtig: »Damit aber ist Gott […] verstanden als […] die stets gegenwärtige Autorität, der die creatura im Vollzug ihres Lebens selber ständig gegenübersteht.«73
Arendt beharrt auf dem Leben als Konflikt, so wie es sich aus der biblischen Stellung eines Schöpfer-Gottes ergibt. Fügen wir hinzu, daß dieser Gedanke des Gegensatzes, der Revolte mehr und mehr den modernen Menschen kennzeichnen wird: Er wird aus ihm nicht nur seinen Anspruch gewinnen, die Güter dieser Welt zu genießen (was in der von Arendt in ihrem späteren Werk oft verurteilten Säkularisierung gipfeln wird), sondern auch die Fähigkeit, seine Anlage zum Fragen zu entwickeln. Dieser psychische Raum des Fragens ist genußbringend, er garantiert das Überleben des Lebenden durch die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, aber nur insofern das Subjekt fähig ist, sich der Autorität oder auch einfach nur der Grenze des Anderen entgegenzustellen. Genuß der Liebe, gewiß, aber der Liebe als Konflikt: in einem Zustimmung und Verweigerung, Freude und Leid.
Freud hat diesen Konflikt in seinen Arbeiten, die das Verhältnis des Menschen zum Sinn grundlegend erneuerten, herausgestellt. Als Kontrapunkt zur Versöhnung des Menschen in seiner Isolierung gegenüber Gott (coram Deo esse), die uns die Augustinische Wiedererinnerung nahelegt, entschleiert die psychoanalytische Anamnese die Permanenz des Konflikts als Bedingung des psychischen Lebens. Augustin hatte diese Perspektive bereits eröffnet, indem er seine Bibellektüre der hellenischen Autarkie aufpfropfte. Freud folgte ihm, ohne es zu wissen, und bezog sich dabei ebenfalls auf die Bibel, stützte sich jedoch ausdrücklich auf die Tragödie des Ödipus, um ein dramatisches, unversöhnbares Wesen zu entdecken. Die christliche Eschatologie hatte diesen Konfliktcharakter nur wiederbelebt, um ihn durch die Liebe zum LEBEN im Leben zu befrieden. Diese Befriedung gelang dank einer subtilen Verschränkung des Leben als mimesis, das heißt der Ähnlichkeit mit dem Sein, und dem Leben als Fragen, ausgehend vom Raum zwischen Geburt und Tod. Indem sie ihrerseits diesen Erfolg befragt, rückt Arendt eine moderne Frage par excellence in den Vordergrund: die Frage des Konflikts und der Revolte, die beide mit der conditio humana als psychisches Leben und als absolutes LEBEN untrennbar verbunden sind – wobei sie die Genealogie bis zum Kern des Augustinischen Denkens zurückführt. Ohne die psychoanalytischen Folgen der Augustinischen Entdeckung festzuhalten, wird Hannah Arendt dennoch gegen Ende ihres Lebens erkunden, was Augustin als die Hauptfähigkeit der so fokalisierten menschlichen Innerlichkeit betrachtete: den Willen74, und sie wird dessen Dekonstruktion ins Auge fassen.
Schließlich ist es nach der Geburt und dem