47Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 4. Dezember 1939, ebd., S. 106
48Brief von Hannah Arendt an Heinrich Blücher vom 8. Februar 1950, ebd., S. 208
49Brief von Hannah Arendt an Heinrich Blücher vom 25. Mai 1958, ebd., S. 471
50Brief von Heinrich Blücher an Hannah Arendt vom 15. Dezember 1949, ebd., S. 176-177
51Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, a. a. O., S. 207
52Vgl. Sylvie Courtine-Denamy, a. a. O., S. 19
53Hannah Arendt, »Was bleibt ist die Muttersprache«, a. a. O., S. 44
54Ebd., S. 46
55Ebd., S. 62. Vgl. auch Liliane Weissberg (Hg.), Rahel Varnhagen. The Life of a Jewess, by Hannah Arendt, Baltimore (John Hopkins UP), S. 25
56Hannah Arendt, »Was bleibt ist die Muttersprache«, a. a. O., S. 46-47
57Julia Kristeva interpretiert hier vom französischen comprendre – verstehen aus, das sich auch als com-prendre – mit-nehmen deuten läßt. Wir versuchen, es im Deutschen nachvollziehbar zu machen. (Anm. d. Übers.)
58Im Laufe der Kontroverse anläßlich der Reportage über den Eichmann-Prozeß beschwert sich Arendt über ihre Kritiker der Zeitschrift Aufbau: »…denn der ›Aufbau‹ hat mich unter anderem auch dessen beschuldigt, was die Freudianer den Penisneid nennen.« Vgl. Brief Nr. 356 an Gertrud Jaspers vom 12. August 1964, in: Hannah Arendt, Karl Jaspers, a. a. O., S. 598. Die Auseinandersetzung, obschon »erheiternd« (ebd.), traf sie an einem empfindlichen Punkt.
2. Lieben nach Augustin
Hannah Arendt verteidigt ihre Doktorarbeit Der Liebesbegriff bei Augustin am 28. November 1928. Das reservierte Gutachten ihres Doktorvaters Karl Jaspers bestätigt, daß die Studentin fähig ist, das Wesentliche hervorzuheben, aber sie »hat nicht etwa Alles, was Augustin über Liebe sagte, zusammengetragen; […] Beim Zitieren sind hier auch einige Malheurs passiert […] Die Methode ist als sachliches Verstehen zugleich gewaltsam […] gibt letzthin wohl das Nichtgesagte: durch philosophisches Arbeiten an der Sache möchte sich die Verfasserin ihre Freiheit zu christlichen Möglichkeiten rechtfertigen, die sie zugleich anziehen. […] kann die übrigens von positivem Gehalt ausgezeichnete und eindrucksvolle Arbeit leider nicht mit der besten Note zensiert werden. Daher: II – I.«59 In der Tat schätzt Arendt offensichtlich mehr den Philosophen als den Theologen Augustin. Die drei Teile ihrer Arbeit (Amor qua appetitus – die Liebe als Begehren; Creator-creatura – das Verhältnis Schöpfer – Schöpfung; Vita socialis – das Leben in der Gesellschaft) sind entsprechend den Auffassungen von Jaspers angeordnet: Arendt sucht nach einer impliziten Systematik im Werk, selbst wenn diese den religiösen Absichten Augustins fremd ist, jedoch ohne ihn in ein System einspannen zu wollen; auch ist das Vokabular Heideggers hier bereits präsent. Die Theologen sind verwirrt, enttäuscht. Jahre später schreibt Arendt an Jaspers, daß sie überrascht ist, sich in dieser weit zurückliegenden Arbeit wiederzuerkennen.60 In der Tat befragt diese erste abstrakte, rein philosophische Forschung – im Zentrum der transzendentalen Beziehung, der christlichen Liebe – die plurale Bindung, die Menschen in der Welt zueinander in Beziehung setzt. Das Programm eines kommenden Werkes ist bereits vorgezeichnet: Das Thema des Lebens, vermittelt durch jenes der Liebe, strukturiert diese einleitende Arbeit und erlaubt uns, Augustin mit Arendt im Lichte ihres späteren Denkens zu lesen.
Zahlreiche Begriffe deklinieren den Liebesbegriff bei Augustin: Liebe, Begehren (mit seinen beiden Varianten appetitus und libido), Mitgefühl, Begierde, die nach Arendt eine wahrhaftige »Konstellation der Liebe« bilden, wobei sie entwickelt, daß die tragende Welle dieser Vielfalt das Begehren ist: »Der appetitus also ist die Grundstruktur des Seienden, das sich selbst nicht hat, das in der Gefahr steht, sich selbst zu verlieren.«61 Die vielfältigen Formen der Liebe unterscheiden sich allein durch ihren jeweiligen Gegenstand, doch ist diese stets eins mit dem Leben. Aber was ist das Leben? Alle Arendtschen Anstrengungen werden darauf abzielen, den verschiedenen Varianten der Liebe nach Augustin folgend, das zu definieren.
Für Augustin, den Christen, ist das Leben als »höchstes Gut« ein »Leben, das nicht verloren werden kann«: Ohne Tod, ohne Ende ist es ewig. Das beate vivere, absolutes »Gut«, ist also nichts anderes als die »Ewigkeit« außerhalb unserer Existenzen. Nun tendiert die Liebe zu diesem außerhalb Existierenden (als Echo auf die Heideggersche Lehre: zum Sein hin), ewige und glückliche Totalität des höchsten Gutes (summum bene), das ewige Leben in Gott. Obwohl dieses höchste Gut jedoch außerhalb des Menschen liegt, schafft es eine Spannung im Existierenden selbst, da es ihm immer schon durch die retrospektive Wiedererinnerung bekannt ist (die Philosophin betont hier die Uminterpretation Platons innerhalb des Augustinischen Denkens). Die spezifische Spannung im Leben des Seienden spaltet dieses zwischen seiner Endlichkeit und der Ewigkeit, wobei die Liebe das Zeichen seiner Spaltung ebenso wie seiner möglichen Verschmelzung ist. Die Liebe zielt auf ein Gut, das außerhalb dieses Ziels liegt. Da aber alles, was von außen auf das Leben zukommt, nur erstrebt ist um des Lebens willen, so ist eigentlich das Leben zu erstreben.62
So zeichnet sich eine Verdopplung, wenn nicht gar eine Dialektik des Lebens ab: absolute Äußerlichkeit des ewigen Seins und zugleich deren Einführung in die Innerlichkeit des Liebenden; ein Leben der Liebe ist bereits ein LEBEN. Gott, der Liebe ist, erscheint notwendigerweise als das, was Leben mit ewigem Sein identifiziert. Es ergibt sich daraus, daß man zu Gott findet nur … indem man in Liebe lebt. Aber wie?
Im Gegensatz zur Identifizierung von Leben und in Gott sein steht das gegenwärtige Leben, das es zu vernachlässigen gilt: Allein die Begehrlichkeit spricht diesem Leben eine ausschließliche Bedeutung zu. So wie der Liebende sich bei der Geliebten vergißt – Arendt wird später63 sagen, daß die Liebesbeziehung ebenso wie die »christliche Güte« »weltlos« ist – so ist das gegenwärtige Leben angesichts des LEBENS zu vergessen. Dennoch genießt das Subjekt (der Gläubige) das LEBEN (Gottes: des summum esse), indem es es liebt, und dieser Genuß ist möglich in dem Maße, wie das Subjekt seine Glückseligkeit auf ein Draußen richtet, wo Gott ist.
Zeitlich gesprochen ist dieses Außen nichts anderes als die von der Vergangenheit untrennbare Zukunft. Das glückliche Leben ist immer bereits in der Vergangenheit, so daß allein die Erinnerung es in das gegenwärtige Leben holt: Die Rolle der Wiedererinnerung ist also zentral, denn sie verschafft uns den Zugang zur Glückseligkeit. Arendt betont gern, daß Augustin – durch die Erinnerung und im Genuß – das glückliche LEBEN, das gegenwärtige Leben und die Wiedererinnerung miteinander verbindet: Das glückliche Leben ist ein nach außen und auf die Zukunft hin (Ewigkeit) entworfenes Leben, und zwar einzig auf Grund der »Rückverkoppelung des Begehrens«, die es in der Vergangenheit wiederfindet (Wiedererinnerung); zum Ursprung des irdischen Lebens gelangen ist der Grund allen menschlichen Strebens.64 Mit anderen Worten: Das Leben befreit den Seienden aus seiner Endlichkeit eines vom Sein Verworfenen und bindet ihn durch die Erinnerung oder das Bekenntnis (ricordari) an die Ewigkeit: aber dann, und nur dann, wenn das Leben sich mit der Liebe identifiziert.
Ohne die Erinnerung aufzugeben, ist das Leben keine reine Vergegenwärtigung der Vergangenheit, sondern gibt sich zu erkennen als Streben nach dem glücklichen Leben, als Begehren. Obwohl von der Natur abhängig und mehr noch von jenem, »der mich geschaffen hat«, verbirgt das Leben in der Liebe somit eine Art Unabhängigkeit: Es entwirft, überschreitet, erhebt, in einem Wort, es begehrt die Erinnerung. »Ich will also diese meine Naturkraft überschreiten, um mich schrittweise zu jenem zu erheben, der mich geschaffen hat; und ich komme an bei den Feldern und weiten Palästen der Erinnerung«, schreibt Augustin in den Bekenntnissen (X, 12)65, die Arendt kommentiert.
So ist im Rückbezug zum Sein – gleich Leben der Liebe – das Seiende mit ewiger Beständigkeit konfrontiert und erwirbt selbst ewige Beständigkeit sich