Dann war es vorbei.
Ein paar Stunden später klingelte irgendwo in Wittenrode ein Telefon. Als der Angerufene abhob, meldete er sich mit einem genervten: „Ja?“
„Sie hat sich erhängt.“
„Gut.“
„Gut? Brutaler hätte es wohl kaum enden können.“
Der Angerufene knotete seinen Bademantel zu. „Höre ich da etwa Zweifel heraus?“
„Nein.“ Der Anrufer war nicht wütend. Er war getroffen. „Nein, entschuldige, ich frage mich nur …“
„Überleg dir gut, auf wessen Seite du stehst. Jürgen Jakob wollte uns verraten. Der hätte uns mit seinen plötzlichen Schuldgefühlen alles kaputt gemacht. Und dass seine Frau sich jetzt das Leben genommen hat … Ja, meine Güte. War halt alles zu viel für sie.“
„Und was machen wir mit den anderen?“
„Die machen uns keine Probleme. Sie sind sich über die Bedeutung ihres Schweigens im Klaren. Sonst noch was?“
Der Anrufer zögerte einen Moment. „Was ist mit der kleinen Wagner?“
„Julia? Um die werde ich mich kümmern, sobald sie da ist.“
Damit beendeten sie das Gespräch.
4. KAPITEL
So nackt wie nie zuvor
Dienstag, 6. April
8:15 Uhr
Julia träumte.
Während über der Ostsee ein heftiges Gewitter den Himmel mit Blitzen erhellte, mühte sie sich, den Traum abzuschütteln, und einen Moment schien es tatsächlich so, als würde sie aus der Tiefe auftauchen. Doch dann zuckten erneut Bilder durch ihren Geist, Menschen und Ereignisse, durch Jahre und Jahrzehnte getrennt, tot oder lebendig, trafen sich an einem Ort, wo so etwas wie Zeit nicht existierte. Und wie in so vielen Träumen zuvor, schritt Julia zwischen den Menschen dahin, die Menge teilte sich und ihr Vater trat vor sie. Er trug denselben dunklen Anzug, den er immer getragen hatte, wenn er zum Gericht gefahren war. Dieses Mal aber bemerkte Julia Blut an seiner Jacke. Der Fleck wurde größer. Dann formte ihr Vater die Lippen zu zwei Worten: „Sei vorsichtig.“
Für einen Moment war Julia verwirrt, weil sie seine Stimme nicht hören konnte, dann begriff sie: Der Grund dafür war natürlich der, dass er seit über zwanzig Jahren tot war, genau wie ihre Mutter. Gemeinsam bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Vollkommenes Schwarz. Dann riss Julia mit einem Ruck die Augen auf. Das Herz pochte wild in ihrer Brust, ihr Atem ging flach und schnell.
Jeder Versuch wieder einzuschlafen war zwecklos, das wusste sie aus leidvoller Erfahrung. Also schob sie die Bilder in ihrem Kopf entschlossen zur Seite, schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante. Das T-Shirt klebte nass auf ihrer Haut.
Sie spürte ihre verspannten Muskeln, als sie sich erhob, und griff gerade nach einem Löffel und einer Kaffeetasse, als ihr Handy klingelte. Sie ignorierte es, schüttete Instantkaffee in die Tasse und schritt zum Wasserkocher. Das Handy klingelte weiter. Das Wasser kochte, sie ließ es in die Tasse laufen. Das Handy klingelte immer noch. Mit dem Löffel rührte Julia in der Tasse und atmete das Kaffeearoma ein. Das Handy klingelte unermüdlich weiter. Schließlich nahm sie das Gespräch entnervt an. „Hallo?“
„Julia? Gut, dass ich dich erwische. Pastor Jordan hier.“
Alle Muskeln versteiften sich augenblicklich wieder. „Jordan? Was für eine Überraschung. Was macht der Job?“
„Er ist immer noch meine Berufung und ich gehe ihm mit Leib und Seele nach. Aber deswegen rufe ich nicht an. Ich wollte dir mitteilen, dass Eva wieder in Wittenrode ist.“
Überrascht zog Julia die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Seit wann?“
„Seit gestern Abend. Greger wird auch noch kommen.“
„Nach Wittenrode? Herzlichen Glückwunsch. Und was habe ich damit zu tun?“
„Hast du es denn nicht gehört?“
Julia trank einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und suchte nach ihren Zigaretten. „Was hätte ich hören sollen?“
„Es kam in allen Nachrichten.“
„Ich befinde mich im Urlaub, Pfarrer Jordan. Ich bin an der Ostsee. Nachrichten interessieren mich gerade nicht. Also, was ist passiert?“
Jordan antwortete erst nach kurzem Zögern. „Es geht um Kerstin.“ Anscheinend hatte er die ganze Zeit gesessen, denn am anderen Ende schrammten nun Stuhlbeine über den Boden. „Sie hat sich im Gefängnis erhängt.“
Wie vom Blitz getroffen, richtete Julia sich auf. „Was? Das ist ein Witz, oder? Was hat Kerstin denn im Gefängnis gemacht?“
„Sie hat ihren Mann getötet. Offenbar konnte sie mit der Schuld nicht leben und hat sich nun selbst gerichtet.“
Julia ließ das Handy sinken, zwei Sekunden, drei, dann hob sie es wieder ans Ohr. „Kerstin soll ihren Mann umgebracht haben?“ Sie versuchte sich das vorzustellen, was ihr beim besten Willen nicht gelang.
„Sie hat alles weggeworfen, Julia. Ihre Ehe, ihr Zuhause, ihr Leben. Und jetzt … Hör zu, morgen ist die Beerdigung, und ihr vier, Kerstin, Greger, du und Eva, ihr wart doch mal Freunde. Ich bitte dich in Erinnerung an diese Freundschaft …“
Julia spürte, wie eine unsichtbare Faust gegen ihre Brust schlug und dort verharrte. „Sie wollen mich jetzt aber nicht dazu überreden, zurück nach Wittenrode zu kommen, oder?“
„Nein, natürlich will ich dich nicht überreden. Ich bitte dich darum. Um eurer alten Freundschaft willen.“
Keine Antwort von Julia.
„Also, was sagst du?“, sprach Jordan weiter. „Wirst du kommen?“
„Ehrlich gesagt, habe ich überhaupt kein Interesse daran, in meinem ganzen Leben noch einmal einen Fuß nach Wittenrode zu setzen. Ich finde schon allein den Gedanken daran unerträglich.“
Es rauschte und knackte in der Leitung und Julia hegte die vage Hoffnung, dass das Schicksal das Gespräch vielleicht beendet hatte, doch Jordans Stimme durchbrach schon in der nächsten Sekunde wieder das Rauschen.
„Meine liebe Julia …“ Wenn er sie früher so angesprochen hatte, wusste sie, dass sie keine andere Wahl hatte. „Meine liebe Julia, kommst du nie auf den Gedanken, dass du dich irren könntest?“
„Ich weiß nicht, was Sie meinen.“
„Du denkst, dass Wittenrode und die Zeit im Waisenhaus nur Schlechtes hatten. Und du nimmst an, wenn du es einfach ignorierst, dann ist es vergessen.“ Der Pfarrer hatte sich offenbar fest vorgenommen, am Ball zu bleiben. „Aber so ist es nicht. Du kannst weglaufen, Julia, du kannst laufen, wohin du willst, es wird dich trotzdem nicht loslassen. Ihr hattet damals keine Wahl. Ihr wurdet nicht gefragt. Ihr musstet mit unheimlichem Mut die Dinge angehen und habt ungeheuer schnell gelernt, was andere vielleicht nie im Leben lernen – nämlich alleine zu überleben.“
„Danke für die psychologische Lehrstunde, Herr Pastor, aber es ist doch ein bisschen komplizierter.“
„Es geht um Kerstin. Nicht um dich, nicht um mich, nicht um sonst irgendetwas. Eva und Greger fühlen sich nicht weniger unwohl und nehmen trotzdem an der Beerdigung teil.“
Schweigen.
„Also, was ist?“, fragte Jordan noch einmal. „Kommst du?“
„Nein. Und ich werde auch nicht noch einmal darüber nachdenken.“
Der Pfarrer konnte nicht weiter protestieren. Julia hatte bereits aufgelegt.
Und sie dachte doch darüber nach.
Sie