Julia wandte sich ab und rubbelte sich die Haare trocken, dann zog sie sich eine ausgewaschene Jeans und ein altes Sweatshirt an und trat hinaus auf den Balkon. Sie legte ein Foto auf den Tisch, das sie seit vielen Jahren immer bei sich trug, und setzte sich.
Während sie den kühlen Wind um sich herum spürte und den regenverhangenen Himmel beobachtete, suchte sie in ihrem Kopf nach einer Beschwörungsformel, nach irgendetwas, was sie darin bestätigte, dass es richtig war nicht zurück nach Wittenrode zu fahren. Aber es ging um alte Freundschaft. Kerstins Tod hatte so viel Unwirkliches. Obwohl sie über zehn Jahre nicht miteinander gesprochen hatten, rechnete Julia fest damit, dass Kerstin jetzt anrufen und mit ihrer unverwechselbaren Stimme in den Hörer sagen würde: „Hi Julia, ich weiß, du hast mich vergessen, aber hey, das ist in Ordnung, ich hasse dich nicht dafür. Du hattest eben wichtigere Dinge zu tun. Was ist? Kommst du wenigstens zu meiner Beerdigung?“
Und als würde das nicht reichen, immer wieder Jordans Stimme im Ohr: „Du kannst laufen, wohin du willst, Julia, es wird dich trotzdem nicht loslassen.“
Hatte er recht? Natürlich, gestand Julia sich ein. Aber wenn ich schon einen Moment ehrlich zu mir selbst bin, dann fliehe ich ja nicht nur vor Wittenrode und den Erinnerungen an das Waisenhaus. Ich fliehe vor allem. Vor Beziehungen. Vor meinem Beruf. Vor mir selbst. Vor meinen Albträumen. Und bitte – bitte! – nicht noch einen Menschen, der in meinen Träumen herumspukt.
Sie hob das Foto an und betrachtete es. Es war eine Aufnahme von vier Dreizehnjährigen, die die Arme umeinander gelegt hatten und sich vor dem Hintergrund einer verfallenen Burg gegen den Wind lehnten. Julia drehte das Foto um. Da stand nur ein einziges Wort in großen Buchstaben: WIR. Sie schluckte, spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, drehte das Foto erneut und starrte die Jugendlichen wieder an. Kerstin. Ein außergewöhnlich hübsches, blondes Mädchen. Auf dem Foto trug sie einen langen, nicht mehr ganz neuen Mantel und auf dem Kopf einen schwarzen runden Filzhut. Ihr Gesicht war der Kamera zugewandt und jeder Zug in ihm war klar und schön. Sie hatte die Lippen zu jener Art Lächeln verzogen, das sie damals stundenlang vor dem Spiegel geübt hatte, und es sah echt aus, so wie es ihre Augen erhellte.
Julia ließ das Foto sinken und blickte erneut aufs Meer. Es gab ja verdammt noch mal genug Gelegenheiten zum Sterben. Krebs. Autounfall. Herzinfarkt. Aber Selbstmord nach dem Mord am Ehemann?
Was ist passiert, Kerstin? Du hattest so viele Hoffnungen und Träume, was ist passiert, dass sich das Blatt so gegen dich gewendet hat?
Warum so, Kerstin?
Plötzlich gelang es Julia nicht mehr, die Ereignisse voneinander zu trennen. Alles verschmolz wieder zu jener Zeit, in der sie zu viert „drinnen“ waren. „Drinnen“, das war im Waisenhaus. Wochen, Monate, Jahre zogen an ihrem inneren Auge vorbei. Sie entsann sich vieler Kleinigkeiten – Gerüche, Melodien, Wortfetzen –, und am Ende blieb sie bei Eva hängen. Eva würde ihr Verhalten feige nennen, und das wahrscheinlich zu Recht.
Julia hob das Foto wieder an und betrachtete das Mädchen mit den hellroten Locken, die wild von seinem Kopf abstanden. „Curly Sue“, so hatten sie damals alle genannt.
Julia erinnerte sich an ihren ersten Tag im Heim und an ihre erste Begegnung mit Eva …
„Brauchst du Hilfe?“ Das helle Gesicht mit den Sommersprossen lächelte offen und freundlich.
Julia schüttelte den Kopf, aber Eva ging trotzdem nicht. „Wir haben uns das alle nicht ausgesucht“, erklärte sie ziemlich altklug für ihre zehn Jahre und hob dabei die Schultern an, fest entschlossen, sich mit dem Schicksal abzufinden.
Julia konnte das nicht. Julia wollte es auch nicht. Sie packte ihre Tasche nicht aus, sondern legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Eva legte sich auf das Bett daneben und tat dasselbe.
Von diesem Tag an wich sie Julia nicht mehr von der Seite. Sie erzählte ihr von den Vögeln am Himmel und den Tieren im Wald und war in der Lage, jedes einzelne – ob groß oder klein, im Wald, in der Luft oder im Wasser – mit Namen zu nennen. Ob Julia es wissen wollte, interessierte Eva ebenso wenig wie alle mehr oder weniger verbrämten Aufforderungen, sie in Ruhe zu lassen.
Nach zwei Wochen war Julia kurz davor, die Tür von innen abzusperren. Zu der Zeit hatte sie aber bereits begriffen, dass sie dazu auserwählt war, Evas besondere Gunst zu genießen, und dass sie für sie so etwas war wie ein verletztes Reh, das unbedingt gerettet werden musste …
Wieder in der Gegenwart, rieb Julia sich über die Augen. Sandmann war anders gewesen. Greger Sandmann. Wieder sah sie auf das Foto. Der dicke Junge in der Mitte, mit dem dunkelblonden Haar und der viel zu großen Brille auf der Nase. Ein Ass in der Schule, ein wandelndes Lexikon. Außer Eva, Julia und Kerstin hatte Sandmann keine Freunde, und Frauen waren vermutlich heute noch ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Er konnte reden wie ein Wasserfall, ohne Punkt und Komma, aber im Gegensatz zu Eva hatte er Julia nie mit zu viel Nähe bedrängt. Das war etwas, das sie immer besonders an ihm gemocht hatte.
Julia seufzte und ließ das Foto sinken. Das waren sie, die vier Freunde, das Kleeblatt jener Zeit. Verlorene Seelen, die sich für kurze Zeit getroffen hatten, um einander in einer einsamen Zeit Halt zu geben. Jetzt war eine von ihnen tot. War es da nicht ihre Pflicht, wenigstens zur Beerdigung zu erscheinen?
Um 9:45 Uhr rief sie Pastor Jordan an und sagte nur einen Satz: „Ich komme, aber ich werde nicht lange bleiben.“
5. KAPITEL
Das kann er doch nicht machen!
Zehn Minuten nach Julias Anruf schritt Jordan auf die Bäckerei von Eddie und Dina Winter zu.
Ein Wagen fuhr vorüber, aus dessen geöffnetem Fenster ein kleiner Arm hing. „Hallo Herr Pastor!“, rief ein Kind.
Jordan winkte und antwortete: „Euch einen schönen Tag, meine Lieben!“
Dann überquerte er die Straße und betrat den Laden. Das Ehepaar Winter stand sich hinter der Theke gegenüber, und sofort spürte der Pastor, dass dicke Luft herrschte.
Dina machte ein geradezu verdrossenes Gesicht. Ihr Mund war zu einem schmalen Strich verzogen, während aus Eddies Augen zornige Blitze schossen und seine Körpersprache signalisierte, dass er kurz davor war, nach irgendetwas zu greifen und damit um sich zu werfen.
„Guten Morgen“, sagte Jordan an beide gewandt. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Doch, alles in Ordnung“, brummte Eddie und verschwand in der Backstube.
Dina zog die Schultern nach oben und wollte gerade etwas sagen, als die Ladentür erneut aufging.
Ein Mann trat ein, ruhig und selbstsicher, mit dunklem, kurzem Haar und auffallend blauen Augen. „Guten Morgen.“ Seine Stimme klang angenehm rau, mit niedersächsischem Einschlag.
„Guten Morgen, Herr Holz“, entgegnete Jordan freundlich, dem nicht entging, dass Dina rot wurde und offenbar nicht wusste, wo sie hinsehen sollte.
In der nächsten Sekunde schon lenkte Margot, die Dorfälteste, die Aufmerksamkeit auf sich, als sie den Laden betrat, was etwas länger dauerte, weil man mit einhundertundeins Jahren halt mal nicht mehr die Schnellste ist. Glücklicherweise griff Edna Gabriel, die zur gleichen Zeit in die Bäckerei wollte, ihr resolut unter die