„Ich hab keine Ahnung. Stellen Sie die Frage dem Lügner, nicht mir.“ Kalis brach ab, als er begriff. „Sie wollen mir anhängen, ich hätte im Suff gemordet, richtig?“
„Sie können sich doch nicht erinnern, haben Sie gerade gesagt.“
„Spielen Sie keine Spielchen mit mir, okay? Sie haben gesagt, ich hätte Blackouts. Ich habe gesagt, dass ich seit ewigen Zeiten nicht mehr trinke. Und wenn ich das sage, dann ist das so. Und wenn ich sage, ich hab niemanden umgebracht, dann ist das auch so. Ende der Durchsage.“
Ta Quok beugte sich etwas nach vorne. „Ich spiele keine Spielchen, Herr Kalis. Ich bin weit davon entfernt. Es geht hier um drei Menschen, die ermordet wurden. Nein, nicht nur ermordet. Sie wurden dem Teufel geopfert.“
„Ich hab damit aber nichts zu tun. Ich will jetzt mit einem Anwalt sprechen.“
Ta Quok setzte sich wieder zurück, machte sich ein paar Notizen und ließ Kalis so eine Weile schmoren. Dann sah er wieder auf und sagte: „Wenn Sie es nicht waren, dann beweisen Sie uns Ihre Unschuld. Wir wollen ganz genau wissen, was Sie zu den Tatzeiten gemacht haben. Wir wollen bis auf den Zentimeter genau jeden Ihrer Aufenthaltsorte wissen.“
„Scheiße, ich will jetzt einen Anwalt. Sie basteln sich das jetzt alles grad so zurecht, wie Sie’s brauchen, damit ich da auch wirklich nicht mehr rauskomme. Ich bin im Waisenhaus aufgewachsen und hatte eine beschissene Kindheit, okay. Im Dorf bin ich der Außenseiter, okay. Und ich interessiere mich für schwarze Messen, okay. Aber das ist ja wohl noch kein Verbrechen.“
Ta Quoks Stimme veränderte sich nicht. „Nein, aber Mord ist ein Verbrechen. Sagen Sie mir, was ist das für ein Gefühl, einem Menschen den Hals durchzuschneiden? Ist das ein ganz besonderer Kick? So eine Art Orgasmus obendrauf?“
Kalis atmete tief durch, zwang sich zur Ruhe.
„Wir haben die Kleidungsstücke der Opfer bei Ihnen gefunden“, setzte Ta Quok hinterher. „Sind Sie sich im Klaren darüber, was das für Sie bedeutet?“
„Das Zeug muss mir untergeschoben worden sein.“
„Aber natürlich.“
Noch einmal atmete Kalis tief durch. „Egal, was ich sage, Sie glauben mir sowieso nicht. Ich will jetzt mit einem Anwalt sprechen.“
„Sie werden einen Anwalt bekommen, keine Sorge. Und Sie haben recht, ich glaube Ihnen tatsächlich nicht. Ich glaube nämlich nicht an Zufälle. Sie hätten weiter Ihre schwarzen Messen abhalten und Hühner köpfen sollen, oder was auch immer Sie dabei sonst so veranstalten, aber das mit den Menschenopfern, das war ein Fehler. Davon abgesehen … Wenn es diesen mysteriösen Dritten tatsächlich gäbe, von dem Sie behaupten, er hätte Ihnen die Kleidungsstücke untergeschoben – um wen könnte es sich dabei wohl handeln?“
Kalis saugte den letzten Rest Nikotin aus dem Stummel und drückte ihn dann im Aschenbecher aus. „Ja, das finden Sie mal raus. Sie sind doch die Polente. Kann ich noch eine Zigarette haben?“
Ta Quok schüttelte noch eine Zigarette aus der Packung und reichte sie an ihn weiter. „Das ist jetzt wirklich Ihre letzte Chance. Wir nageln Sie so oder so fest. Aber wenn Sie reden, Kalis, dann können Sie vielleicht noch etwas von Ihrer Ehre retten, falls Sie so etwas haben. Zeigen Sie Reue, das kommt bei den Richtern immer gut an. Wenn nicht, wird man denken, dass Sie ein perverses Arschloch sind, das es verdient hat, den Rest seines Lebens hinter Gittern zu verbringen.“
„Sagen Sie mal, hören Sie mir zu? Ich hab niemanden umgebracht!“
„Glauben Sie im Ernst, dass Sie jetzt noch davonkommen, Kalis? Wir brauchen Ihr Geständnis nicht. Im Gegenteil, wir haben alle Beweise, die wir brauchen.“
Speichel sprühte aus Kalis’ Mund. „Ich war es nicht! Und das könnt ihr mir, verdammt noch mal, auch nicht anhängen!“
Am 13. Januar 1988, zwei Tage nach seiner Verurteilung zu lebenslanger Haft plus anschließender Sicherheitsverwahrung, erhängte Bruno Kalis sich in seiner Zelle.
1. KAPITEL
Nie gedacht
29. März 2010
20:30 Uhr
Es kam ohne Vorwarnung. Er verstand es noch nicht sofort. Erst als er das Messer in ihrer Hand sah und den starren, entschlossenen Blick, da begriff er und es erfüllte ihn mit Entsetzen. Er wollte sich wehren, wollte nach dem Messer greifen, doch es war zu spät. Es gab kein Entrinnen mehr, keine Möglichkeit, den Tod noch abzuwenden.
Seine Knie gaben nach, ihm wurde schwindlig. Er wusste, er hatte verloren, wehrte sich nicht mehr, nahm sein Schicksal an, und dann kam es ihm vor, als treibe er in der Tiefe eines Ozeans und fern über ihm schimmerte das Sonnenlicht auf dem blauen Wasser.
Endlich Stille.
Endlich Frieden.
Endlich schwiegen die Dämonen in ihm.
Kurz bevor sein Herz aufgab, nahm er noch einmal all seine Kraft zusammen und sagte den Namen der dritten Person im Raum. Er wusste, dass er den Namen aussprach, doch er hörte seine eigene Stimme nicht mehr.
Sein Herz hörte auf zu schlagen.
Es war vorbei.
Ihr Atem ging heftig, als sie zuerst auf das Messer in ihrer Hand und dann auf die Leiche zu ihren Füßen starrte. „Das … Das …“ Der Anblick war ihr unerträglich. Der Anblick seiner entstellten Leiche. Der Anblick seiner leeren Augen. Der Anblick des vielen Blutes auf dem Teppich, das sich immer weiter unter seinem leblosen Körper ausbreitete. Sie musste wegschauen.
„Du hast ihn umgebracht, Kerstin.“
Der Raum um sie herum schien zu schrumpfen. Sie machte den Mund auf und schloss ihn wieder, wollte sich irgendwo festhalten, aber sie fand keinen Halt. Sie schwankte.
Sofort stand er hinter ihr und fing sie auf. „Du musst dich setzen.“
„Ich habe … ihn umgebracht.“ Sie hörte den weinerlichen Klang ihrer eigenen Stimme. Ihre Unterlippe zitterte.
„Ja“, sagte er. „Du hast ihn umgebracht, Kerstin.“
Olivia Klose saß zur gleichen Zeit an ihrem Wohnzimmerfenster, die Hände im Schoß gefaltet, während ihr Gehstock an der Armlehne ihres Sessels lehnte. Von hier aus hatte sie einen guten Ausblick auf alle Häuser der Nachbarschaft. Ein Ausblick auf die anderen Menschen in Wittenrode, auf deren Alltagsleben, die großen und die kleinen Dinge, die das Leben so mit sich brachte.
Olivia selbst verbrachte mit ihren zweiundsiebzig Jahren die Zeit nur noch damit, hier am Fenster zu sitzen und zu warten. Eigentlich auf den Tod, doch der hatte sich leider noch nicht blicken lassen. Dafür kam Pastor Jordan hin und wieder vorbei und erkundigte sich nach ihrem Befinden.
Bei seinem letzten Besuch hatte Olivia ihm erklärt, dass sie nach ihrem Tod so wenig Feierlichkeit wie möglich haben wollte. Am besten gar keine Feierlichkeiten. Sie wusste nicht einmal, ob sie einen Pastor bei ihrer Beerdigung haben wollte. Am besten auch keine Nachbarn. Niemand aus dem Dorf. Und schon gar keine Gebete.
„Wirklich, Frau Klose, sind Sie sich da ganz sicher?“, hatte Jordan gefragt, dem es zusehends unbehaglicher wurde.
Olivia hatte entschlossen genickt und hätte nun, bei der Erinnerung an die ehrliche Erschütterung im Gesicht des Pastors, eigentlich lächeln müssen. Doch sie tat es nicht. Kein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie war viel zu zornig.
Zornig, weil sie Hildchen nie wiedersehen würde.
Zornig, weil das Schicksal sie in diesem Teil der Welt geboren hatte.
Zornig, weil Gott sie nicht einfach sterben ließ.
Zornig, weil er all das hatte geschehen lassen.
Olivia ballte die knochigen Fäuste. All die Jahre hatte sie mit niemandem darüber gesprochen. Nicht einmal mit Edna. Obwohl Edna,