Ein Schicksal, das Jack seinem Schützling ersparen wollte. Deshalb hob er ihn vom Boden auf, und brachte ihn zunächst hinter einem zerstörten Panzer vor den beiden Robots in Sicherheit.
Den noch offenstehenden Gleiter im Blick, musste er nicht lange überlegen, was er als Nächstes tat. In einem unbeobachteten Moment brachte er den Schwerverletzten an Bord des Gleiters und schnallte ihn auf der dafür vorgesehenen Liege fest.
Jack sah das Ganze als willkommene Gelegenheit, die sich so bald nicht wieder ergeben würde. Zügig schwang er sich auf den Pilotensitz des Gleiters und verriegelte die Türen von innen. Dann loggte er sich in die Steuerungseinheit des Bordcomputers ein und bevor jemand seine Flucht bemerkte, war er bereits senkrecht in der Luft. Per Gedankenbefehl gab er die erforderlichen Zielkoordinaten ein. Fünftausend Meilen nach Osten. Dort lebte – wenn er einem bereits desertierten Bruder glauben konnte, der heimlich zu ihm Kontakt aufgenommen hatte – die einzige Person, die willens und in der Lage war, ihm und seinem schwer verletzten Kameraden zu helfen.
Kaum, dass sie die Wüste hinter sich gelassen hatten, wurden sie, wie fast schon erwartet, von chinesischen Grenzpatrouillen entdeckt. Jack aktivierte die an Bord befindlichen Laserabwehrkanonen und berechnete einen raffinierten Zickzack Kurs, der sie vor gezielten Treffern bewahrte.
Erst nachdem sie die unsichtbare Grenzmauer aus magnetischen Wellen mittels eines geheimen Codes überwunden hatten, schaltete er die automatische Steuerung ein und widmete sich wieder seinem schwer verletzten Patienten.
Zunächst legte er ihm eine dauerhafte Infusion an, gegen die Schmerzen. Danach schloss er dessen Blutkreislauf mit wenigen Handgriffen an seinen eigenen an. Roboterblut hatte die gleichen Eigenschaften wie menschliches Plasma und würde – so hoffte er – den Kreislauf des Mannes weiter stabilisieren und die Sauerstoffversorgung garantieren.
Unvermittelt schlug sein Gegenüber die Augen auf. »Wo sind wir?«, fragte er schwach.
»Auf dem Weg nach Hause«, antwortete Jack und versuchte sich an einem zuversichtlichen Lächeln. »Ich habe einen Sanitätsgleiter gekapert und bringe dich zu jemandem, der uns helfen kann, dich wieder hinzubekommen. Du musst nur ruhig liegen bleiben und tun, was ich dir sage.«
»Hör zu, Jack!«, krächzte sein Gegenüber mit kaum verständlicher Stimme. »Ich weiß, dass ich es nicht schaffen werde. Ganz gleich, was du mit mir veranstaltest. Aber bevor es mit mir zu Ende geht, musst du mir etwas versprechen!«
Jack nickte beklommen. Die meisten Hybridkämpfer, denen er in diesem Krieg begegnet war, hatten ein verlässliches Gespür für ihr eigenes Ende gehabt.
»Wenn ich tot bin, musst du meine Familie finden«, stieß der andere mühsam hervor. »Du musst meiner Frau sagen, was hier vor sich geht. Du musst verhindern, dass diese Scheißkerle aus ihr und meinen Kindern das gleiche machen, was sie aus mir gemacht haben. Und du musst ihr sagen, dass ich sie liebe und dass ich immer bei ihr und den Kindern sein werde, ganz gleich, was noch passiert. Du weißt, wo sie wohnt, Jack und du weißt, wie sie aussieht. Erinnerst du dich noch, als du das erste Mal mein Leben gerettet hast? Du hast gesagt, du hättest sie in meinen Gedanken gesehen, als du dich mit meinem überhitzten Hirn verbunden hast, um es zu kühlen.«
»Ja«, murmelte Jack mehr zu sich selbst. Dieses Erlebnis war einzigartig gewesen und hatte ihn vollkommen verändert. Doch das behielt er lieber für sich. Seitdem er diese Frau gesehen hatte, wie sie ihren Mann küsste und liebte, war in Jacks Leben nichts wie vorher. Möglicherweise hatte ihr Anblick dazu beigetragen, sein Bewusstsein vollends erwachen zu lassen. Ein Zustand von dem niemand erfahren durfte, ansonsten hätte man ihn als Robot sofort abgezogen und umprogrammiert.
»Jack? Du musst es mir versprechen, hörst du?«
»Ich verspreche es«, schwor Jack feierlich, auch wenn es ihn umbringen würde, dieser Frau tatsächlich gegenüberzustehen. »Aber willst du es ihr nicht lieber selbst sagen? Ich kann es aufzeichnen mit meinem Recorder und ihr vorführen, sobald ich sie gefunden habe.«
»Danke, Mann«, flüsterte sein Gegenüber mit brüchiger Stimme und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, starrte er mit festem Blick in Jacks Iriskamera. Eine intelligente Linse, die jeder Kampfroboter im rechten Auge trug und die ihn nicht nur permanent mit wichtigen Informationen aus seiner direkten Umgebung versorgte, sondern auch zur Aufzeichnung gedacht war.
Jack konzentrierte sich auf das Gesicht seines Freundes. Während der mit wenigen Worten eine letzte Botschaft an seine Familie verfasste, empfand Jack eine diffuse Angst, wegen dem, was nun folgen sollte und diese Angst war für einen Kampfroboter alle andere als normal.
Wenn er es schaffte, sein Ziel zu erreichen, würde er alles haben, was einen Menschen von einem Robot unterschied. Er würde leben, er würde lieben und er würde hoffen. All das, was er sich sehnlichst gewünscht hatte, seit er einen Blick in das Gedächtnis dieses Mannes geworfen hatte.
Aber was, wenn das alles nur eine schöne Illusion war, die sich niemals erfüllte?
Am liebsten hätte er sein Versprechen zurückgezogen. Stattdessen ergriff er wortlos die Hand des Sterbenden. »Du kannst dich auf mich verlassen, Mann«, sagte er fest.
»Ich weiß«, flüsterte der andere mit halb geschlossenen Lidern und zog schmerzlich die Mundwinkel hoch. »Und dafür werde ich dir auf ewig dankbar sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich meine Familie ausgerechnet einer verdammten Blechbüchse anvertraue. Aber du, Jack, bist der einzige, der dafür in Frage kommt. Also enttäusch mich nicht.« Erschöpft schloss er die Lider. Kurz darauf war ein langgezogenes Summen zu hören. Auf der Vitalanzeige über dem Kopf des Verletzten war nur noch eine Nulllinie zu sehen.
Jack spürte, wie sich sein biotechnologisch hochentwickeltes Herz beim Anblick des Toten verkrampfte und sich seine Augen langsam aber stetig mit Wasser füllten. Er weinte. Auch etwas, das vollkommen neu für ihn war und an das er sich erst noch gewöhnen musste.
Kapitel 1 – Wills Vermächtnis
Chicago, Oktober 2056
Marci wischte den dreihundert Jahre alten venezianischen Spiegel als ob Rochelle ihr einen Bonus dafür zahlen würde. Dabei bemerkte ihre Chefin normalerweise nicht einmal, ob sie das Prunkstück ihrer luxuriös ausgestatteten Empfangshalle von Staub und Streifen befreite.
Marcella Martinez Finnegan, wie Marci mit vollem Namen hieß, war für Rochelle MacIntyre nichts weiter als ein unsichtbarer Hausgeist, der zuverlässig und möglichst unauffällig tagtäglich die stummen Zeugen ihres unfassbaren Reichtums polierte. Jedes einzelne Stück davon hatte mehr gekostet, als Marci in ihrem ganzen Leben verdienen würde.
Obwohl Will den Job von Beginn an als Sklaventreiberei bezeichnet hatte, war Marci froh, überhaupt einen Arbeit ergattert zu haben. Das Geld hatte schon vor Wills Verschwinden hinten und vorne nicht zum Leben gereicht. Aber seit er gegangen war, wusste Marci erst recht nicht, wie sie sich und ihre beiden Jungs durchbringen sollte.
Dabei zahlte ihr die exzentrische Milliardärin nicht mal den Mindestlohn, obwohl sie es sich ohne weiteres hätte leisten können.
Nach ihrer Scheidung von Montgomery »Monty« MacIntyre vor wenigen Jahren hatte Rochelle von ihrem Ex-Mann diese millionenschwere Villa als Abfindung erhalten. Dazu hatte er ihr seine Anteile an »Copter Robot Unlimited«, kurz CRU, überlassen. Ein Unternehmen, das Ersatzteile für Roboter jeglicher Art herstellte und damit Rochelles luxuriöses Auskommen sicherte.
Ihr Ex war zudem alleiniger Herrscher über ein industrielles Imperium, das in erster Linie für die Produktion