Die Ermittlerin öffnete die oberste Kommodenschublade. Ein schwacher Großmuttergeruch quoll heraus. Die Schublade enthielt neue und alte Dinge, die ordentlich aufeinander gestapelt waren. Fotos eines blonden Kindes. Geblümte Mappen mit Briefpapier, alte Lippenstifte, Taschenbücher, Briefumschläge mit alten Zehnkronenscheinen und einige kleine Spitzenhandschuhe. Links, sorgfältig aufeinander gelegt, fand sie einen Stapel Papiere. Ellen Grue nahm sie vorsichtig heraus, ging zum Bett und verteilte die Blätter auf der glatten Bettdecke. Sie sah die Papiere durch. Es war ein Brief von Siv Ellens alter Mutter, der Ton war ein wenig vorwurfsvoll. Der Brief war im Oktober datiert und verriet, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter nicht das Beste gewesen war. Hier sitze ich jetzt im Pflegeheim und denke an Euch. Es kann nicht immer nur die Sonne scheinen, liebes Kind. Der arme Axel ..., stand dort in schräger Damenschrift, Du kannst doch wenigstens versuchen, dich zusammenzunehmen. Jeder Mann macht im Laufe einer langen Ehe einmal einen Fehler. Vergib ihm. Vater lässt grüßen. Deine Mutter.
Ellen Grue legte den Brief beiseite und betrachtete die Besitzerurkunde für das Haus und einen Antrag auf Trennung, der nur von Axel Blad unterschrieben war.
Auf einem aus einem Kalender gerissenen Zettel stand in wütenden Filzstiftbuchstaben: Jetzt reicht es, Siv Ellen. Du musst aufhören, Maiken gegen mich aufzuhetzen. Du weißt selbst, dassdu mich nicht liebst. Ich gehe jetzt, alles andere klären wir dann später. Axel.
Dass es in den vergangenen Monaten in dieser Familie heftig zugegangen war, stand fest, dachte Ellen Grue und blätterte interessiert weiter in den Papieren.
Sie fand einen Brief, der offenbar von jemandem aus Siv Ellen Blads Orchester stammte. Obwohl es eigentlich nicht zu ihren Aufgaben als Technikerin gehörte, solche Briefe zu lesen, rechtfertigte sie das damit, dass es doch erlaubt sein müsse, Dinge auszusortieren, die für die Ermittlungen nicht von Interesse waren. Sie nahm den Brief, legte einen Müllsack auf den Sitz und setzte sich in den tiefen Sessel vor dem Fenster.
Liebe Ellen!
Es ist Dezember, liebe Ellen, der Weihnachtsmonat. Bei unserem letzten Abschied ist etwas mit mir passiert. Oder es war schon passiert. Es ist vielleicht passiert, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ich weiß, du willst, dass wir nur Freunde sind. Du sagst, ich bin so jung und du fühlst dich so alt. Das kann ich verstehen, nach allem, was du durchgemacht hast. Trotzdem sehe ich jeden Abend, wenn ich schlafen gehe, deine Augen vor mir.
Aber ich will jetzt lieber über Musik sprechen. Unsere Ausgangsbasis, unsere gemeinsame Ausgangsbasis.
Denn wir haben doch recht, wenn wir sagen, dass die Musik Triebe in uns freisetzt, von deren Existenz wir gar nichts gewusst haben. Es ist so, als ob die Töne über unsere Körper marschieren, und vor allem war diese große Nähe da, als wir Chopin gespielt haben, nicht wahr – das Scherzo in B-Dur. Und dann habe ich viel darüber nachgedacht, was du über Geborgenheit gesagt hast. Dein Mann hat sie dir gegeben, aber dein musikalisches Universum hat er nicht gekannt. Er war für dich nur eine Art Vater, glaube ich. Oder irre ich mich da? Ich weiß doch nicht so viel über dein Leben mit ihm, über das Intime und solche Dinge. Aber kann ein Mann eine Frau wirklich lieben, wenn sie sich auf einem ganz anderen Planeten befindet?
Unser Raum ist der Orchestergraben. Wenn wir dort zwischen Bühne und Publikum sitzen, habe ich das Gefühl, dass du mir gehörst. Versteh das nicht falsch. Ich will dich niemals zu etwas zwingen. Aber für mich gehörst du mir.
Der Orchestergraben trennt Schauspieler und Publikum. Trennt das künstliche Leben vom wirklichen Leben. Ist ein dunkler Gürtel zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit. Ist ein Grab, in dem die Musik lebt.
Pavel
Ellen Grue erhob sich und steckte die Papiere in eine Plastiktüte. Jetzt reicht es, Ellen, hatte der Ehemann geschrieben. Solche schriftlichen Mitteilungen waren bei einer Ermittlung oft wertvoll. Auch der andere Brief, in dem stand, »ein Grab, in dem die Musik lebt«, war unheimlich, dachte sie und schickte Cato Isaksen eine SMS. »Hab vielleicht was gefunden«, schrieb sie und ging rasch und effektiv das restliche Schlafzimmer durch, ohne dass noch etwas von Interesse aufgetaucht wäre. Auf der Treppe kam ihr Roger Høibakk entgegen. »Ich hab einige ziemlich schwülstige Briefe gefunden«, sagte sie. »Vor allem zwei sind interessant. Von einem Musiker aus dem Orchester, unter anderem. Und du?«
Roger Høibakk schüttelte den Kopf. »Nichts«, sagte er.
Der alte Mann spürte, dass der Tod unterwegs auf dem Beifahrersitz gesessen hatte. Die Fahrt nach Oslo war eine große Belastung gewesen. Cato Isaksen und Randi Johansen kamen aus der Kellerwohnung, als Odd Lindsjø gerade in seinem alten Volvo eintraf. Es war 17:30 Uhr. Der Siebzigjährige war kreidebleich und niedergeschlagen. Seine weißen Haare rahmten Augen voller Nacht ein. Das Bild seiner toten Tochter, die in einem eiskalten Kühlraum lag, hatte ihn auf dem ganzen Weg verfolgt. Er dachte daran, wie er sie zum ersten Mal in den Arm genommen hatte, in einem großen weißen Handtuch. Und wie er ihr einige Jahre später eins auf die Finger gegeben hatte, wenn sie an den Knöpfen seines Radios herumspielte. Er begrüßte die Ermittler wortlos. Er hatte für Maiken ein Fotoalbum mitgebracht, mit Bildern von Siv Ellen in einem geblümten Kleid. Sie hielt einen großen Wasserball in den Händen und hatte sandigen Boden unter den Füßen. Es war in dem heißen Sommer gewesen. Einen solchen Sommer hatte es seitdem nie mehr gegeben. Die Schwarz-Weiß-Fotos hatten viele Farben. Er dachte daran, wie seine Tochter als kleines Kind gewesen war, sie hatte ihm geholfen, die Mülltonne vor das Haus zu stellen. Jeden Montag, ehe sie in die Schule ging.
Odd Lindsjø öffnete den Kofferraum. Im Nachbargarten bellte ein Hund, und das Eis lag endlos und grau über dem Hofplatz.
Cato Isaksen stürzte hinzu und half ihm, seinen Koffer aus dem Wagen zu heben. Der andere bedankte sich höflich. Randi und Cato sahen einander erleichtert an und waren froh darüber, dass sie Siv Ellen Blads Vater seine sechzehn Jahre alte Enkelin überlassen konnten.
Randi sah nach, ob in Kühlschrank und Tiefkühltruhe etwas zu essen war, ehe sie und Cato Isaksen auf die Wache zurückfuhren. Ellen Grue und Roger Høibakk waren noch im Haus beschäftigt, aber sie würden im Laufe einer halben Stunde fertig sein.
»Ist es nicht doch seltsam«, kommentierte Randi, als sie zur Wache zurückfuhren, »in so einer Situation, meine ich, wo die Mutter umgebracht worden ist und der Kleinen doch alles chaotisch vorkommen muss, dass sie da trotzdem so wütend auf ihren Vater ist? Das kommt mir seltsam vor. Sie muss ihn wirklich hassen.«
Cato Isaksen gab keine Antwort. Er sah eine Familie, die hinter einem hell erleuchteten Fenster, an dem sie vorbeifuhren, beim Essen saß. Er dachte daran, wie sein ältester Sohn ihn verabscheut hatte, als er damals mit Sigrid Velde zusammengezogen war. Das Ganze hatte einige Zeit darauf ein Ende mit Schrecken genommen, als der Sohn mit Drogen experimentiert und sich wirklich in Gefahr gebracht hatte. Cato Isaksen war damals auf irgendeine Weise abgesunken. Das Gefühl, versagt zu haben, würde für immer ein Fragment von Wahrheit in sich tragen, auch wenn es jetzt mit seinem Sohn wieder gut ging.
»Jeanette Myren ist ja eine tatkräftige junge Frau«, sagte Randi Johansen jetzt. »Oder was meinst du?«
»So jung ist sie ja nun auch wieder nicht«, erwiderte Cato Isaksen.
»Wie lang müssen wir heute noch weitermachen?« Randi schaute rasch auf die Uhr. »Wollen wir auch noch Remy Steen zur Vernehmung holen?«
Cato Isaksen zuckte mit den Schultern. »In ein paar Tagen vielleicht«, sagte er. »Wir nehmen uns eins nach dem anderen vor. Ich glaube, jetzt konzentrieren wir uns erst einmal auf diesen Musiker, von dem der Brief stammt, den Ellen gefunden hat. Und auf Axel Blad. Der hat nämlich kein Alibi.«
Ein jämmerlicher vergessener goldener Adventsstern hing an einem Faden im Fenster.
Die Ermittler sammelten sich zu einer raschen Besprechung um den ovalen Tisch im Besprechungsraum. Abteilungsleiterin Ingeborg Myklebust war, zu Cato Isaksens Erleichterung, bei diesem ersten Durchgang nicht anwesend. Die Polizei hatte zu diesem frühen Zeitpunkt natürlich noch keine konkreten Spuren, nur fragmentarische Bilder dessen, was vielleicht geschehen war.