Sie hörte, dass die Autos draußen auf der Straße vorbeifuhren, als sei nichts geschehen.
Plötzlich war der grüne Lupo verschwunden. Das Letzte, was sie davon sahen, waren die roten Hecklichter, als er in eine Seitenstraße der Bygdøy allé abbog. Sie fuhren hinterher, aber er war schon nicht mehr zu entdecken.
»Verflixt.« Roger Høibakk schaute zu Cato Isaksen hinüber. »Wie hat sie das geschafft?«
»Sie hat gemerkt, dass wir sie verfolgen. Da bin ich mir ganz sicher.«
»Was machen wir jetzt?«
»Wir fahren nach Vinderen«, sagte Cato Isaksen und fuhr langsam den Kristine Lundvei hoch.
»Pletanek wohnt hier gleich in der Nähe«, sagte Roger Høibakk.
»Wir schauen vorbei und sehen nach, ob er zu Hause ist.« Cato Isaksen sah einige Kinder, die sich am Eingang zum Frognerpark rauften.
In der Odins gate war kein apfelgrünes Auto zu sehen, und Pavel Pletanek ging noch immer nicht ans Telefon.
Cato Isaksen und Roger Høibakk fuhren in Richtung Einkaufszentrum Vinderen. Sie bogen in den Haakon-den-godesvei ab und fuhren langsam am weißen Haus der Familie Blad vorbei.
»Da sitzen sie«, sagte Roger Høibakk.
Cato Isaksen sah ebenfalls die Umrisse von Maiken Blad und ihrem Großvater am Küchentisch, unter dem Leuchter. Das Küchenfenster war wie ein Bild, das an der weißen Wand hing.
Vinderen war wie eine kleine Stadt in der Stadt. Das Zentrum bestand aus einer Straßenkreuzung mit Läden auf allen Seiten. Die Ermittler hielten wieder beim Möbelhaus. Roger Høibakk ging zum Tatort, um sich von den Technikern, die noch immer die Container durchforsteten, auf den neuesten Stand bringen zu lassen, während Cato Isaksen am Altenzentrum vorbeiging und weiter zu den am Sonntag geschlossenen Läden.
Am Montagmorgen kehrten die Ermittler nach Vinderen zurück. Cato Isaksen ging beim Geldautomaten die Treppe hinunter und durchquerte die Glastür. Es war ein kleines, übersichtliches Zentrum, mit Café, Post, Bank, Optiker, Blumenladen, einer Reinigung und einer Apotheke. Es war still, nur einige wenige Menschen waren zum Einkaufen unterwegs, aber ihm fiel auf, dass alle Gäste im Café Zeitungen mit Berichten über die Tsunami-Katastrophe lasen.
Cato Isaksen ging durch das Zentrum und die Doppeltür auf der anderen Seite. Die Techniker hatten am Vortag in dem einen Container einige Sprühdosen gefunden. Er überquerte die Straße und ging auf den Supermarkt zu. Er dachte an den Werberucksack, den sie bei den Gleisen gefunden hatten. Er wollte sich im Laden erkundigen, wie viele Rucksäcke verteilt worden waren.
Ein alter Mann in einem taubengrauen Mantel stand vor dem Eingang an der Ecke und musterte das Gebäude auf der anderen Straßenseite. Cato Isaksen drehte sich auf einen Impuls hin um und starrte in dieselbe Richtung wie der alte Mann. Der Anblick der voll gesprühten Mauer des schönen gelben Hauses erfüllte ihn mit Unbehagen. Riesige schwarze, grüne, rote und blaue Kringel waren zu einer wahnwitzigen Wandmalerei zusammengefasst worden. Das ganze Gebäude war verschandelt.
»Entsetzlich«, sagte der alte Mann empört und sah Cato Isaksen an. »Ganz entsetzlich«, wiederholte er. Der Ermittler ließ seine Blicke über das gelbe Haus mit den orangefarbenen und grünen Fenstersimsen, dem schmiedeeisernen Balkon und den Metallvorsprüngen wandern, die dem Gebäude etwas Schlossähnliches gaben.
Cato Isaksen erkannte die Signatur aus der Fußgängerunterführung. Hier standen zudem dieselben Wörter wie dort. Hier waren einwandfrei dieselben Personen am Werk gewesen.
Plötzlich stand Roger Høibakk neben ihm. »Sie haben nichts Interessantes gefunden«, sagte er. »Kein Messer und auch sonst nichts, was sie für wichtig halten.« Plötzlich fiel auch ihm das Graffiti auf. »Herr Jesus«, sagte er und zog den Kamm aus der Hosentasche. Er fuhr sich nervös damit durch die Haare. »Wann ist das denn passiert?«
Als Cato Isaksen sich umdrehte, um den alten Mann zu fragen, war der verschwunden.
»Ich sag kurz den Technikern Bescheid«, sagte Roger Høibakk. »Ich werde sie bitten, den Scheiß zu fotografieren und festzustellen, ob das vor Kurzem passiert ist.« Cato Isaksen nickte und betrat den Supermarkt. Auch dort war es still, nur einige Kunden, die Waren aus den Regalen nahmen. Der Ermittler zog eine Schachtel Pastillen aus einem Gestell und wandte sich an eine junge asiatische Kassiererin. »Diese Mauer«, fing er an und nickte zu den automatischen doppelten Glastüren hin, »auf der anderen Straßenseite, wissen Sie, wann die vollgeschmiert worden ist?«
»Ich habe am Samstag gearbeitet«, sagte die Frau. »Da war es noch nicht passiert.«
»Das wollte ich hören«, sagte der Ermittler lächelnd und bezahlte für die Pastillen.
»Es ist so traurig«, sagte sie, »dass so was passiert. Hier, wo alles so schön ist und überhaupt.«
Cato Isaksen nickte und steckte die Pastillenschachtel in die Tasche.
»Ihr hattet solche Werberucksäcke. Gebt ihr die einfach so weg?«
»Nein, das waren Weihnachtsgeschenke«, sagte die Frau. »Für die besten Kunden«, fügte sie hinzu.
»Wissen Sie, wie viele verschenkt worden sind?«
»Nein«, sagte sie. »Das weiß ich nicht.«
Cato Isaksen bedankte sich und ging hinaus.
Das weiße Laken reichte bis zu ihren Knöcheln. Axel Blad starrte seine tote Frau an. Er wusste nicht so recht, mit welchen Augen er sie sehen sollte. Sollte er sich über sie beugen und sie hassen? Sollte er an das erste Mal denken, als er mit ihr nach Hause gegangen war? Sollte er Luft holen und die Atemzüge in seiner Brust ruhen lassen? Er sah zu der Polizistin hinüber. Sie erwiderte seinen Blick. Er hätte weinen mögen, wenn er nur genug Kraft hätte aufbringen können. Der Tod war nicht umsonst.
Das weiße Laken war bis zu ihrem Hals hochgezogen. Ihr Gesicht, oder das, was ihr Gesicht gewesen war, war maskenhaft erstarrt. Ihre leere Schönheit strahlte nichts aus. Er dachte daran, wie lebendig sie gewesen war. Viel zu lebendig. Jetzt war sie wächsern weiß und sah aus wie eine Puppe.
In der letzten Zeit, bevor er gegangen war, hatte er sie wirklich gehasst. Er hatte sie gehasst, weil er sich ihr gegenüber nicht anständig hatte verhalten können. Er verstand, warum Folterknechte ihre Opfer hassen können.
Einmal hatte er die Puppe geliebt, die jetzt auf der Bahre vor ihm lag. Aber dann war alles ganz von selbst passiert. Etwas, das er sich eigentlich nicht gewünscht hatte. Es hatte mit einem braunen Keim der Unzufriedenheit angefangen, mit der Tatsache nämlich, dass sie lieber oben im Schlafzimmer saß und Klavier spielte. Oder Bratsche.
Wie damals, als sie sich einen Diamantring gekauft hatte. Zwar keinen kostbaren Ring, aber es wäre doch seine Aufgabe gewesen, ihr Ringe zu kaufen.
Um ihren Hals lag ein weißes Stück Stoff. Es war fast wie ein Schal arrangiert. Er wusste, dass sie zusammengeflickt und zurechtgemacht worden war, dass die Pathologen ihm den Anblick ersparen wollten. Er konnte gerade noch den oberen Rand eines blauroten, überschminkten Fleckens sehen. Um ihr Kinn und ihren Kopf war ein Verband gewickelt worden, um ihren Mund geschlossen zu halten. Er sah die perlenhaften Zähne an, die zwischen den grauen Lippen hervorlugten. Aber das Traurigste waren ihre Hände. Die eine Hand schaute neben dem Laken hervor. Seine Tochter war im Bauch dieser Frau herangewachsen. Ein leises Schluchzen presste sich in seinem Hals nach oben. Die Polizistin, die neben ihm stand, legte ihm die Hand auf den Arm. Axel Blad konnte sich plötzlich nicht mehr an Siv Ellens Stimme erinnern. Wie hatte ihr Lachen eigentlich geklungen? Und ihr Weinen?
Im September hatte sie behauptet, ihn zu hassen.
Randi Johansen bewegte sich vorsichtig. »Lassen Sie sich ruhig Zeit«, sagte sie leise.
Etwas am Wesen dieser Polizistin sorgte dafür, dass ihn eine Unruhe durchströmte. Was wussten sie eigentlich? Was glaubten sie? Wann hatte eigentlich