»Bei allem, was auf dieser Welt passiert, war nun ausgerechnet Preben am falschen Ort«, sagte Ingeborg Myklebust hart und sah Asle Tengs an, der zur Fernbedienung gegriffen hatte. Ein scharfes blaues Licht flackerte über den Schirm, dann wurde er dunkel. Es war jetzt ganz still im Zimmer. Cato Isaksen betrachtete die Tischplatte. Vor seiner Netzhaut tanzten vage Bilder von Preben in dem gierigen Wasser. Er hob das Gesicht und merkte, dass Ingeborg Myklebust ihn musterte. Cato Isaksen erwiderte ihren Blick einige Sekunden lang, dann riss er sich zusammen und berichtete über den Mord an Siv Ellen Blad.
Ingeborg Myklebust war im letzten Jahr zu Preben ganz besonders spöttisch gewesen, was ihr jetzt sicher zu schaffen machte, wo er allem Anschein nach in der über das Ferienparadies hereingebrochenen Riesenwelle verschwunden war. Cato Isaksen kannte seine Chefin gut genug, um zu wissen, dass ihr das den Schlaf raubte. Auch ihrem Gesicht war das anzusehen. Er betrachtete seine Vorgesetzte, während sie sprach, sah ihre roten Nägel und nahm den Duft ihres Parfüms wahr. Sie war viele Jahre lang seine Feindin gewesen, aber das war jetzt vorbei. Vielleicht ist das ein schlechtes Zeichen, dachte er. Aber er hatte schon längst aufgegeben. Als sie einige Jahre zuvor schwer krank gewesen war, waren sie einander näher gekommen. Er hatte sie im Krankenhaus besucht, und sie hatte ihm die psychischen Probleme ihrer Tochter anvertraut. Roger Høibakk und den anderen machten inzwischen ihre Kommentare mehr zu schaffen als Cato Isaksen.
Roger Høibakk schüttete gerade einen Umschlag voller Bilder auf dem Tisch aus. »Die kriegen wir später noch digital«, sagte er.
Die Fotos des Tatortes waren auf dem Tisch verteilt. Siv Ellen Blads starrer Blick und ihr halb offener Mund glotzten sie an. Ewigkeitsblick nannte Cato Isaksen das. Er merkte, dass sein Hals beim Anblick des Todes prickelte. Es ärgerte ihn, dass er nach all den Jahren noch immer so reagierte. Er hatte im Laufe der Zeit so viele Bilder ausdrucksloser Totenmasken gesehen. Einige würde er niemals vergessen. Es konnte sich um Bagatellen handeln, Kleiderstoff, zerrissene Strümpfe, Schmuckstücke. Kleinigkeiten, wie man sie auf Bildern in Illustrierten sieht, verteilt und besprochen als Modeaccessoires des Frühlings. Das hier waren die Accessoires des Frühlings. Körper, die sich auflösten, verletzte Glieder, Stichwunden und Blutlachen. Tote Menschen waren wie leere Tafeln. Die Ermittler mussten die Flächen mit Schrift füllen. Roger Høibakk sah ihn an, und Cato Isaksen riss sich zusammen und hob zwei Fotos hoch. Eines zeigte die mit Graffiti besprühten Wände der Fußgängerunterführung. Das andere die Querwand des Altenheimes, das auf die Bahngleise blickte. Das Foto zeigte eine verschlungene Wandmalerei auf rotem Grund mit lila und gelb gefüllten Buchstaben.
Ellen Grue informierte die anderen darüber, dass der vorläufige Obduktionsbericht später am Tag vorliegen werde, zusammen mit einer Zusammenfassung der bisherigen Schlussfolgerungen der Technik. Dann legte sie Kopien aller Papiere vor, die sie in der Kommode im Haakon-den-godes-vei gefunden hatte. Vor allem der vom Musiker Pavel unterschriebene Brief erweckte das Interesse der Runde. Auch Axel Blads Zettel und das von Siv Ellen Blad nicht unterschriebene Trennungsgesuch wurden diskutiert.
»Wenn wir Glück haben, können wir den Fall bald lösen«, sagte Cato Isaksen. »Wir holen uns Axel Blad möglichst schnell, finde ich. Randi und Asle, ihr macht die Vernehmung.«
Roger Høibakk zog den Kamm aus der Hosentasche und fuhr sich damit durch die Haare. Cato Isaksen setzte sich auf seinem Stuhl besser zurecht. Er hob den Blick und sah aus dem Fenster. Die Wolken lagen nebelhaft und tief über dem Haus gegenüber, und es tropfte aus den Regenrinnen auf die Fensterbank.
Roger Høibakk wurde beauftragt, sich bei der Oper nach dem Musiker Pavel zu erkundigen und seine Adresse in Erfahrung zu bringen. Er erhob sich und verließ das Zimmer.
Der leere Rucksack, der bei der Bahnlinie gefunden worden war, war ein Werbegeschenk der Supermarktkette ICA. »Der Sack ist zur Analyse geschickt worden, und bald werden wir wissen, ob daran Fasern oder biologisches Material gefunden worden sind«, sagte Ellen Grue.
»Ein U-Bahn-Fahrplan liegt vor.« Stein Billington sah Cato Isaksen an.
»Ihr überprüft die aktuellen Abfahrten und sprecht mit den Fahrern«, sagte der. »Und du, Randi, gehst am Montagvormittag mit Axel Blad zur Gerichtsmedizin zur Identifizierung.«
Randi seufzte unhörbar und fuhr mit dem Finger die Tischkante entlang. Beim bloßen Gedanken an den Geruch auf den Gängen der Gerichtsmedizin wurde ihr schlecht. Cato wusste, dass sie den nicht vertragen konnte, aber irgendwer musste diese Aufgabe ja übernehmen. Außerdem hielt Cato es für einen Vorteil, dass sie eine Frau war, das machte es den Angehörigen leichter. Sie war da ganz und gar nicht seiner Ansicht.
Roger Høibakk kam mit einer Liste zurück, die von der Oper herübergefaxt worden war und die die Namen, Telefonnummern und Adressen aller Orchesterangehörigen enthielt.
Er hatte mit der Opernleitung gesprochen, und die hatte bereits einige Orchesterangehörige informiert. Angeblich hatten drei von ihnen Siv Ellen Blad besser gekannt als die meisten anderen aus dem Ensemble. Sie waren auf der Liste angekreuzt. Es waren zwei Frauen und ein Mann. Pavel Pletanek. Jenny Brown. Beate Norli.
Ein klebriges altes Blatt setzte sich an seinem Schuh fest, als er über die Straße ging. Cato Isaksen drehte sich um und hielt Ausschau nach Roger Høibakk, der gerade den Wagen abschloss. Er drückte auf die Klinke der Tür zu dem heruntergekommenen Mietshaus in der Odins gate. Das Mietshaus war wohl gegen 1900 erbaut worden. Pavel Pletanek war nicht zu Hause, jedenfalls machte er nicht auf. Sein Telefon war ausgeschaltet, und den Ermittlern blieb nichts anderes übrig, als weiterzufahren, zur Nächsten auf der Liste, Jenny Brown. Sie wohnte in Bestum in einem kleinen Einfamilienhaus aus den siebziger Jahren, das im Garten eines eleganten Hauses aus den Dreißigern errichtet worden war. Ein altes Auto stand unter einer blauen Plane auf dem Hofplatz. Vor der Treppe lag ein Kinderfahrrad. Die Ermittler stiegen darüber hinweg.
Jenny Brown, Mitte dreißig und Mutter von zwei kleinen Kindern, war zu Hause. Die Frau in der Tür wirkte überrascht, als plötzlich zwei Polizisten vor ihr standen. Sie war klein und schmächtig und nicht sonderlich hübsch. Ihre Locken waren von einem undefinierbaren Braun, und sie hielt sie sich mit einem Haarband aus der Stirn. Sie war nicht geschminkt und trug eine verschlissene Trainingshose und einen frühlingsgrünen Pullover. An den Füßen hatte sie Wollsocken. Sie bat die Besucher nervös herein und fragte, worum es gehe, während sie zugleich Schuhe und Stiefel wegräumte, die auf dem Boden herumlagen.
Cato Isaksen dachte an die Worte des Gedichtes in seinem Büro, während er den Grund ihres Kommens nannte, und Jenny Brown wimmerte und schlug die Hände vors Gesicht. Du verlierst deine Züge. Ehe du durchsichtig wirst, ist deine Haut glatt ...Du strömst neben dem Blut.
Sie ging rückwärts und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Dort blieb sie apathisch sitzen und starrte abwechselnd Roger und Cato an. »Ich war eifersüchtig auf sie«, sagte sie zu deren Überraschung. Sie sprach mit englischem Akzent. »Siv Ellen war so selbstsicher. Wir waren befreundet, aber ich war eifersüchtig auf sie.«
Die schmächtige Frau stand auf und ging vor den Ermittlern her in das chaotische Wohnzimmer.
»Mein Mann ist mit den Kindern unterwegs.«
»Warum waren Sie eifersüchtig auf sie?«
»Das hat keinen besonderen Grund.«
»Haben Sie sie gut gekannt?«, frage Cato Isaksen, als sie sich auf das Sofa gesetzt hatte.
Jenny Brown nickte. »Ja«, sagte sie. »Wir haben schon häufiger zusammen gespielt, nicht nur in der Oper. Wir haben auch zusammen geübt. Oben in ihrem Schlafzimmer. Das war sehr groß. Im Sommer hatten wir das Fenster offen. Draußen auf den Bäumen saßen Vögel. Sie sangen mit uns.« Sie lächelte.
Cato Isaksen zeigte fragend auf zwei Sessel, und Jenny Brown sprang auf und zog die Sessel weiter vom Tisch weg. »Natürlich«, sagte sie. »Setzen Sie sich.« Sie drehte sich um und starrte aus dem Fenster. »Wo ist es passiert?«, fragte sie dann. »Und warum? War das Axel?«
Die Ermittler betrachteten ihren Rücken, ohne zu antworten. Jenny Brown ließ ihren Blick von dem schmutzigen Fenster wegwandern und drehte sich zu den Besuchern um. »Sie