»Wir können diese Fragen noch nicht beantworten«, sagte Randi Johansen ruhig. »Ganz einfach, weil wir das selber noch nicht wissen. Deshalb sind wir hier, um euch um Hilfe zu bitten. Vielleicht wisst ihr etwas. Einzelheiten, Dinge, die sie gesagt hat, und so weiter. Dinge, die ihr nicht so wichtig gefunden habt.«
Jeanette Myren sah Maiken Blad an, dann schüttelte sie energisch den Kopf. »Wenn Sie am Wochenende zu Ihren Eltern wollten, warum sind Sie dann hier?«
Jeanette Myren schluckte, dann schüttelte sie den Kopf. »Meine Mutter und ich«, sagte sie rasch, »wir haben uns gestritten, und da bin ich zurückgekommen.«
»Aber es war doch sicher ein total zufälliger Mörder?« Maiken Blad räusperte sich. »Es ist doch bestimmt keiner, der vorhatte, Mama umzubringen. Ich meine ... wieso denn auch?«
Remy Steen kam aus der Küche zurück. Er setzte das rotgekleidete Kind auf den Schoß der Mutter. Dann schloss er die Wohnungstür.
Jeanette Myren rückte die Kleine besser auf ihren Knien zurecht.
»Aber ihre Tasche ist doch verschwunden. Danach habe ich einen Polizisten gefragt.« Maikens Stimme war kaum zu hören. »Es muss also jemand gewesen sein, der es auf ihr Geld und ihr Telefon abgesehen hatte.«
»Hatte sie viel Geld in ihrer Tasche, weißt du das?« Randi Johansen beugte sich ein wenig vor.
»Nein«, schluchzte Maiken Blad. »Mama hatte fast gar kein Geld.«
Jeanette Myren setzte sich auf dem Sofa gerade, und Remy Steen zündete sich mit selbstverständlicher Miene eine neue Zigarette an. Die Kleine zappelte auf dem Schoß der Mutter, und die junge Mutter hob sie eilig hoch und setzte sie auf ihr anderes Knie. Dann bewegte sie sich rhythmisch hin und her, um das Kind zu beruhigen. Zugleich zeigte sich in ihrer Haltung eine kleine Veränderung, als befänden die Ermittler sich plötzlich auf verbotenem Terrain. Gleich darauf wussten sie, warum.
»Sie musste diese Kellerwohnung an mich vermieten«, sagte sie. »Ich glaube nicht, dass sie große Lust hatte, Fremde ins Haus zu lassen. Aber wir haben uns dann trotzdem miteinander angefreundet. Ich glaube eigentlich, dass Siv Ellen ein bisschen einsam war. Wir haben oft Wein zusammen getrunken. Ich habe uns wirklich als Freundinnen betrachtet, obwohl sie viel älter war als ich.«
Es war deutlich, dass diese Behauptung Maiken Blad nicht gefiel.
»Es ist doch klar, dass sie nicht viel Geld hatte«, sagte Jeanette Myren jetzt. »Dieses Haus hier ist ja mit anderthalb Millionen beliehen.«
Cato Isaksen musterte sie interessiert. Es war deutlich, dass Jeanette Myren das Gefühl hatte, ein wenig zu viel gesagt zu haben. »Ja, nicht, dass mich das etwas anginge, aber für sie war das doch ein Problem.«
»Das war, weil Papa ausgezogen war und Mama das Haus behalten wollte«, sagte Maiken Blad mit monotoner Stimme. »Papa war wütend und meinte, Mama habe nie gelernt, wie man sich benimmt, sie sei verwöhnt und interessiere sich nur für Luxus und so. Aber das stimmt nicht. Sie wollte das Haus meinetwegen behalten.« Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, und sie schaute zur Decke hoch.
»Was ist das da für ein Haus?«, fragte Cato Isaksen und zeigte auf das Bild über dem Sofa.
»Zu Hause«, sagte Jeanette Myren kurz. »Unser kleiner Hof bei Hamar.«
»Ihre Eltern leben also noch immer dort?«
»Ja.«
»Betreiben die den Hof noch, meine ich.«
»Nein.« Sie schüttelte energisch den Kopf. »Mein Vater war auch Feuerwehrmann«, sagte sie. »Aber jetzt ist er in Rente«, fügte sie hinzu und wirkte plötzlich unruhig. »Sie haben die Felder verkauft.«
»Wie viel bezahlen Sie hier an Miete?« Randi Johansen sah die junge Mutter an.
»Ich bezahle sechstausend pro Monat, und das, obwohl ich Mäuse in der Waschküche hatte«, sagte sie verdrossen.
»Das bezahlt Mama auch an Zinsen«, sagte Maiken Blad.
Seltsam, wie viel die plötzlich über die Finanzlage der Toten wissen, dachte Cato Isaksen und musterte Jeanette Myren. »Kannten Sie Siv Ellen Blad schon, ehe Sie hier eingezogen sind?« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Ich habe über meine Schwester von der Wohnung erfahren. Ich arbeite gleich hier um die Ecke, in der psychiatrischen Klinik, deswegen ist sie ideal gelegen. Ich brauche nur ein paar hundert Meter zu gehen. Ich putze nur«, fügte sie leicht verlegen hinzu. »Ich will eine Ausbildung machen, wenn Roberta größer ist.«
»Und Sie?« Cato Isaksen nickte Remy Steen zu.
»Im Moment nichts Besonderes«, sagte der kurz. Er schien sich zu wünschen, dass diese Vorstellung bald ein Ende nähme.
Cato Isaksen konnte sich nicht beherrschen. »Sie sind also nur eine Art Klette«, sagte er ironisch.
»An den Wochenenden hilft er mir mit dem Kind und so«, sagte Jeanette Myren rasch.
»Ach?«
»Ja, wir sind befreundet, er passt ab und zu auf sie auf. Und ich kann sein Auto leihen. Wie gestern, als ich nach Hamar gefahren bin.«
»Aber ich wechsele keine Windeln«, sagte Remy Steen.
»Und wo waren Sie am Wochenende?«, Cato Isaksen sah ihn an.
»Zu Hause. Ich wohne in der Arendalsgate.«
»Wie alt sind Sie?«
»Neunzehn«, sagte er rasch. Cato Isaksen sah Jeanette Myren an. »Ich bin dreiundzwanzig«, sagte sie und fügte hinzu: »Wir sind nur Freunde.«
Remy Steen zog wütend an seiner Zigarette und stieß die Luft aus. Cato Isaksen musterte ihn gereizt.
Randi Johansen, die selbst ein Kind von drei Jahren zu Hause hatte, bemerkte, Rauchen sei vielleicht nicht so ideal, wenn die Kleine danebensitze. Remy Steen schaute seine rechte Hand an, hob sie und machte noch einen Zug, dann drückte er mit harten Bewegungen die Zigarette in dem großen Aschenbecher aus.
Die Stufen schienen unter ihren Füßen zu seufzen, als sie die breite Treppe hochging. Ellen Grue öffnete eine Tür nach der anderen, zu Maikens Zimmer, zum Gästezimmer, zur Abstellkammer. Dann betrat sie das große Elternschlafzimmer. Sie hatte eine Rolle Müllsäcke und einige kleinere Plastiktüten mitgebracht. Unten im Wohnzimmer durchsuchte Roger Høibakk das Bücherregal.
Man wusste nie, wonach man bei solchen Fällen suchte. Sie zog ihre Plastikhandschuhe an. Eine Frau war ermordet worden. Ein Wort auf einem Zettel, Kleinigkeiten und Details, nach allem musste sie Ausschau halten. Sie musste sich anstrengen, um ihr Bewusstsein vor diesen traurigen Dingen auszusperren. Die Stille in diesem großen Haus erinnerte sie an etwas aus ihrer eigenen Kindheit. Etwas, woran sie nicht denken wollte. Sie war eine, die im Nebel grub, die Fragmente fand und sie zu Spuren zusammensetzte.
In diesem Zimmer hatte die lebende Frau geschlafen und geliebt. Das Gefühl, dass sie etwas finden würde, war stark. Vermutlich war die Ermordete eine Station zu früh ausgestiegen. Warum war sie in Vinderen ausgestiegen und nicht in Gaustad, das nur wenige hundert Meter von ihrem Haus entfernt lag? Das war eines der Zeichen, das darauf hinweisen konnte, dass hier nicht zufällig ein Mörder zugeschlagen hatte.
Die großen Spiegelflächen der Türen am Schlafzimmerschrank ließen das Zimmer doppelt so groß aussehen. Neben den Schiebetüren stand ein schwarzes altes Klavier. Die Wände waren mit einer warmen geblümten, orangefarbenen Tapete bedeckt, und die Decke auf dem großen doppelten Bett aus Eichenholz wies dasselbe Muster auf wie die Tapete, nur waren die Farben auf der Decke vertauscht. Die schweren Vorhänge waren zurückgezogen, und im Erker stand ein tiefer Sessel mit grünem Seidenbezug.
Ellen Grue schaute in die Nachttischschubladen, öffnete den Schrank und sah eilig Kleider und Schuhe durch, dann fiel ihr Blick auf eine alte Kommode, auf der eine Lampe mit Spitzenschirm und weißem Lampenfuß stand, geformt wie eine Mutter