Die Kälte trieb Roger Høibakk die Tränen in die Augen. »Jemand hat einen älteren Mann mit einem Hund an der Leine gesehen«, sagte er jetzt und wischte sich die eine Wange ab. »Unmittelbar bevor der Mord bei uns gemeldet wurde. Die Zeugen stehen noch immer dahinten.« Roger Høibakk zeigte auf die kleine Gruppe von Neugierigen.
»Mit denen spreche ich später«, sagte Cato Isaksen.
Ein kräftiger Windstoß veranlasste ihn, seine Lederjacke fester um sich zusammenzuziehen. Ein Drahtzaun trennte den Platz von den U-Bahn-Gleisen. Die Polizisten kletterten die Böschung hinab, die zu den Gleisen hinunterführte. Cato Isaksen begrüßte kurz zwei Beamte, die ihm von früher bekannt waren. Ein Kriminaltechniker untersuchte die Umgebung von drei Containern, die Pappe und anderen Abfall des Möbelhauses enthielten. Die beiden großen wurden versiegelt, während die Ermittler sich auf den kleinsten konzentrierten und ihn sorgfältig durchsuchten. Zwei Polizisten mit Hunden waren in die umliegenden Straßen geschickt worden. Drei Streifenwagen fuhren umher. Die psychiatrische Klinik Vinderen lag gleich in der Nähe, und zwei Polizisten waren hingeschickt worden, um sich zu erkundigen, ob alle Patienten in ihren Betten lägen, während zwei andere im Altenheim fragten, ob jemand dort etwas gesehen habe.
Cato Isaksen spürte den eiskalten Wind in seinem Nacken. Er bückte sich unter ein Absperrband und trat so nahe an die Leiche heran, wie das überhaupt nur möglich war, ging in die Hocke und fragte, ob es irgendwelche Anzeichen für eine Vergewaltigung gebe. Ellen Grue hob abwehrend die Hand. »Nicht näher kommen«, rief sie und zeigte auf den Boden. Dann zog sie ihre Plastikhandschuhe höher. »Es ist ohnehin schon schwer genug, bei diesem Frost Spuren zu sichern, da brauchst du die, die wir haben, nicht auch noch zu zerstören. – Nein, bisher sieht es nicht nach Vergewaltigung aus«, fügte sie dann kurz hinzu. Cato Isaksen nickte und richtete sich wieder auf. Das Opfer hatte blonde, kurzgeschnittene Haare und ein hübsches rundes Gesicht. Ihre Augen standen offen, der eine Arm war unter ihren Leib gekrümmt. Eine hässliche Wunde am Hals zeigte, dass der Täter ein Messer benutzt hatte. Der großkarierte rosa Mantel war zur Seite geschlagen. Vom Kragen herab war die linke Reversseite feucht und rot. Das Blut war in den dunklen Boden um ihren Kopf eingezogen. Die Frau trug eine schwarze Bluse und einen halblangen schwarzen Faltenrock, der hochgeschlagen war und große Teile ihrer üppigen, mit Strümpfen bekleideten Oberschenkel zeigte. Die schwarzen Stiefel zeigten nach innen wie die Schnauzen von zwei Tieren, die einander guten Tag sagen.
Cato Isaksen machte kehrt und ging auf die Zeugen zu – zwei junge Männer und ein Mädchen von vielleicht neunzehn. Sie waren durchfroren und außer sich, sie erzählten, dass sie auf dem Heimweg von einem Fest gewesen waren, als der erste Streifenwagen die Kreuzung erreicht hatte. Sie waren neugierig gewesen und hinterhergegangen. Der alte Mann, der ein Stück weiter unten die Straße überquert hatte, war ziemlich groß gewesen und hatte einen langen Mantel getragen. Er hatte einen hellbraunen Hund an der Leine geführt. »Einen kleinen Hund«, sagte die junge Frau rasch. »Oder ziemlich klein jedenfalls«, fügte sie hinzu.
»Ein bisschen wie ein Spitz, aber mit geradem Schwanz«, sagte einer der jungen Männer.
Cato Isaksen nickte. »In welche Richtung ist er gegangen?«
Die junge Frau zeigte die Straße abwärts. »In Richtung Lebensmittelladen.«
»Woher kam er?«
»Er kam aus dem kleinen Tunnel, der Fußgängerunterführung da oben«, sagte die Frau und zeigte in diese Richtung. »Er ging über den Parkplatz, uns entgegen, und dann weiter die Straße hinunter.« Cato Isaksen roch den Alkohol in ihrem Atem. »Sie müssen morgen alle auf die Wache kommen«, sagte er. Die Jugendlichen nickten ernst in der Dunkelheit.
Cato Isaksen bat Roger Høibakk, der eine Taschenlampe hatte, ihn zur Fußgängerunterführung zu begleiten. Zusammen gingen sie langsam bergauf, mit dem Lichtstrahl als gelbem Ring vor sich auf dem dunklen Boden. Unten in dem kleinen Tunnel stank es nach Urin. Die rauen Wände waren mit Graffiti knallbunt dekoriert. Wörter wie POOL, FRESH und FUCK traten immer wieder auf. Die Buchstaben waren knallgrün, gelb, rot, lila und schwarz. Unter zwei der größten Kringelmuster stand die Signatur JJ.
Als sie zum Tatort zurückgingen, fuhr in hohem Tempo ein Wagen auf den Bürgersteig und kam mit einem Ruck zum Stehen. »VG«, sagte Cato Isaksen und rieb sich die Hände, um ein wenig Wärme zu produzieren.
Der Journalist zog seine Fototasche von der Rückbank und kam auf sie zu. »Wir können noch nicht viel sagen«, sagte Roger Høibakk.
»Aber etwas müssen Sie doch sagen können«, verlangte der Journalist.
»Frau, vermutlich ermordet.«
»Vermutlich?«
»Sie können ›Verdacht auf Mord‹ schreiben«, sagte Cato Isaksen. »Große Stichverletzungen, mehr können wir noch nicht sagen.«
»Darf ich ein Bild von Ihnen machen?«
»Nein«, sagte Cato Isaksen kurz.
»Nach und nach verlierst du deinen Körper, aufgrund der Nacht, in die du eingehst, oder des Lichtes, das sich zurückzieht.« Dieses Gedicht stand auf einem Zettel in Cato Isaksens oberster Büroschublade. Das Gedicht bewahrte er dort auf, seit er sich sechs Jahre zuvor von Sigrid Velde getrennt hatte und zu seiner Exfrau Bente zurückgekehrt war. Immer, wenn er sich an einen neuen Fall machte, holte er den Zettel wieder hervor. Die Worte wurden zu einer Art Mantra, zu etwas, dem er sich stellen musste. Etwas, das ihn vielleicht zu dem Kern hinter dem Fokus führen konnte. Du verlierst deine Züge. Ehe du durchsichtig wirst, ist deine Haut glatt. Du gleitest mit der Wange an der Wange entlang, mit der Stirn an der Lende. Du strömst neben dem Blut. Denn das Gesicht ist nichts anderes als der festgehaltene Augenblick, wenn ein Ruder aus dem Meer gehoben oder hineingesenkt wird.
Bei dieser Arbeit brauchte man den richtigen Fokus. Man musste neben dem Alltag leben, in Räumen aus- und eingehen, in denen es nur die Wenigsten aushalten würden.
Cato Isaksen schob den abgegriffenen Zettel mit dem Gedicht unter einige Unterlagen und knallte die Schublade zu. Gegen sechs Uhr war die Leiche zum Gerichtsmedizinischen Institut gebracht worden, und die technischen Ermittler waren zur Wache auf Grønland gefahren. Jetzt herrschte in der Abteilung hektische Aktivität. Cato Isaksen ging hinaus auf den Gang. Eine Neonröhre gab sich alle Mühe, um das Licht zum Stillhalten zu bewegen.
Im Besprechungsraum versuchten die Ermittler, sich aufzuwärmen, indem sie heißen Kaffee tranken und die Heizkörper voll aufdrehten. Auf einem Fernsehschirm, der unter der Decke hing, wurden immer wieder dieselben Bilder der Flutkatastrophe gezeigt.
Bis auf weiteres gingen sie davon aus, dass es sich bei der Ermordeten um Siv Ellen Blad handelte. Sie hatten mehrere Versuche unternommen, ihren Exmann Axel Blad ausfindig zu machen.
»Abgesehen von dem Mord in Vinderen war es eine ruhige Nacht«, sagte Roger Høibakk. Er zog seinen Kamm aus der hinteren Hosentasche und fuhr sich damit durch die Haare. »Ein paar Meldungen von häuslicher Gewalt, zwei Vergewaltigungen und ein paar Schlägereien. Aber keine Frau von etwa vierzig wurde als vermisst gemeldet.«
Randi Johansen gähnte laut. Es ärgerte sie deutlich, an einem Samstagmorgen so früh auf den Beinen sein zu müssen. Die Kombination von kleinem Kind und Arbeit als Ermittlerin war nicht immer leicht zu bewältigen.
Erst um 10:25 Uhr wurde gemeldet, dass ein Mädchen von sechzehn Jahren das Haus im Haakon-den-godes-vei betreten habe. Der vor dem Haus postierte Polizist informierte Cato Isaksen telefonisch darüber, dass Maiken Blad bei einer Freundin übernachtet hatte und dass ihr Telefon die ganze Zeit ausgeschaltet gewesen war. Als sie erfuhr, warum die Polizei vor dem Haus wartete, wurde sie hysterisch. Ihre Mutter hatte am Vorabend mit ihrem Orchester in der Oper gespielt. Sie hatte nach der Vorstellung sofort nach Hause kommen wollen, sagte ihre Tochter, wie sie das immer machte.
»Na