Eine kleine Melodie spielte munter, als er die Tür öffnete. Das erschreckte ihn, da er in einem Betrieb wie diesem totale Stille erwartet hatte. Er stand in einem Vorraum mit ein paar hellgrauen Lehnstühlen und einer ausladenden Grünpflanze auf einem runden Glastisch am Fenster, auf dem er spiegelverkehrt Pietät Spang las. Der Raum war heller und harmonischer als er erwartet hatte, als er von der Straße aus die triste Fassade gesehen hatte. Auf dem Tisch lagen einige Flyer. Mein letzter Wille war die Überschrift, schwarze Schrift auf dem abgetönten Bild einer weißen Tulpe und mit dem Logo der Dänischen Bestatter darunter. Er räusperte sich. Er konnte nicht behaupten, dass er es genoss, hier zu sein, obwohl dieser Ort ein ebenso natürlicher Teil seiner Arbeit sein müsste wie das Institut für Rechtsmedizin. Aber das war dennoch etwas anderes. Näher dran. Näher am Grab. Die allerletzte Station des Lebens vor dem Himmel oder der Hölle.
Er wurde mitten in seinen morbiden Gedanken unterbrochen, als ein Mann, wohl ungefähr um die dreißig, die nächstgelegene Tür öffnete und ihm mit ausgestreckter Hand und lächelnd entgegenkam.
»Bitte entschuldigen Sie die Wartezeit.«
Der Mann hatte Geheimratsecken, kurzes, krauses Haar mit einigen grauen Sprenkeln, einen kleinen, gepflegten Schnurrbart und war mit einem weißen Hemd, einer schwarzen Hose und schicken Schuhen bekleidet. Er stellte sich als Andreas Spang vor. Roland bemerkte, dass er einen Ehering trug. Er stellte sich ebenfalls vor und zeigte seinen Dienstausweis; in den Augen des Bestatters erschien ein sowohl überraschter als auch erschrockener Ausdruck.
»Sollen wir dann nicht in mein Büro gehen?«
Roland folgte ihm durch die Tür, durch die der Bestatter gerade gekommen war, und hier sah es schon mehr wie ein Bestattungsunternehmen aus mit der Ausstellung diverser Urnen in einem Schaukasten und mehreren Flyern und Broschüren auf einem blankpolieren Tisch. Alles in dem Büro hatte eine exklusive und teure Ausstrahlung, aber auf eine antike Weise, die nicht zu dem jungen Mann passte, der sich auf den Bürostuhl aus braunem Leder setzte und ihn abwartend ansah. Der Stil passte besser zu den beiden älteren Herren, die als hübsch ausgeführte Originalgemälde in Goldrahmen verewigt an der Wand hingen.
»Möchten Sie einen Kaffee?« Andreas Spang trommelte nervös mit den Fingern auf die blanke Tischplatte.
»Nein, aber danke.«
Roland setzte sich und schielte zu den Bildern verschiedener Särge in einem Katalog, der aufgeschlagen auf dem Tisch lag. Eine Holzkiste für den letzten Aufenthalt des Körpers auf dieser Erde. Die Erinnerungen an Salvatores schlichten Sarg, den er vor einigen Jahren mit durch die schmalen, heißen Straßen Neapels getragen hatte, durchfluteten seinen Magen wie Säure, noch verstärkt durch seinen unerbittlichen Hass auf Salvatores Mörder, die nie ausfindig gemacht und bestraft worden waren. Wie die seines Vaters. Die Camorra war ein verborgener Feind, gnadenlos und ohne Gesicht.
»Natürlich bin ich sehr gespannt zu hören, wie ich der Polizei weiterhelfen kann. Ich habe das Geschäft gerade von meinem Vater übernommen«, er warf einen respektvollen Blick zu dem Porträt an der Wand, »daher kenne ich die täglichen Routinen noch nicht richtig.«
Roland konnte nicht umhin, ein wenig zu lächeln. »Es ist nun keine tägliche Routine, dass ich hierher komme, aber ich habe ein paar Fragen ein Begräbnis betreffend, um das Sie sich vor ungefähr einer Woche gekümmert haben.«
»Wie gesagt habe ich das Geschäft gerade erst von meinem Vater übernommen, der vor einem knappen Monat verstorben ist. Heute ist mein erster Arbeitstag, deswegen kann ich Ihnen leider nicht behilflich sein. Vielleicht kann es Pia, meine Schwester, sie hat sich nach dem Tod unseres Vaters um alles gekümmert. Aber sie ist im Augenblick nicht im Haus. Worum geht es denn?«
»Eine verschwundene Leiche«, erwiderte Roland und bemerkte die Irritation im Gesicht seines Gegenübers.
»Das klingt merkwürdig. Wie … verschwunden?«
»Es handelt sich um einen jungen Mann, der vor zehn Tagen bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. Als der Sarg geöffnet wurde, stellte sich heraus, dass er leer war.«
»Leer! Geöffnet? Warum wurde der Sarg denn geöffnet?«
Der Bestatter starrte Roland entsetzt an.
»Das wird derzeit noch geklärt. Aber nachdem sich ihr Unternehmen um die Bestattung gekümmert hat, sind Sie die Letzten, die mit der Leiche in Kontakt waren. Daher wenden wir uns zunächst an Sie. Ich würde natürlich gerne wissen, falls in diesem Zusammenhang irgendwelche Besonderheiten aufgetreten sind.«
Andreas Spangs linkes Auge zuckte leicht, offenbar ein Nerv, der nicht tat, was er sollte.
»Ich kann mir unmöglich vorstellen, dass unser Geschäft etwas damit zu tun hat. Das ist eine sehr ernste Anklage. Es muss etwas anderes passiert sein, das …«
»Was würden Sie vermuten?«
»Ja … das weiß ich nicht. Ich kenne das Prozedere wie gesagt noch nicht, und …«
»Wann ist Ihre Schwester zurück?«
»Ich weiß es nicht. Sie hatte zusammen mit meinem Bruder etwas zu erledigen. Soviel ich weiß, ging es um einen Sarg, der zur Kapelle gefahren werden sollte.«
Roland schaute auf die Uhr und stand auf. Wenn es stimmte, dass es der erste Arbeitstag des Mannes war, konnte er unmöglich etwas über die Sache wissen. Er legte seine Visitenkarte auf den Tisch vor Andreas, der sich ebenfalls sofort erhob.
»Würden Sie sie bitten, mich zu kontaktieren?«
»Ja, selbstverständlich.«
Er begleitete Roland zur Tür.
»Es tut mir sehr leid, dass ich nicht helfen konnte. Aber ich glaube nicht, dass es etwas mit uns zu tun hat«, sagte er und öffnete die Tür. Die muntere Melodie ertönte wieder.
»Wir müssen hören, was Ihre Schwester zu sagen hat.«
Roland sah, dass der Bestatter ihm durch die Scheibe in der grauen Fassade hinterherschaute, als er sich in sein Auto setzte. Er war froh, hier wegzukommen. Hoffentlich dauerte es lange, bis er sich wieder an so einem Ort aufhalten musste, umgeben von Urnen, Särgen, Broschüren über den Tod und den letzten Willen.
6
Natalie machte sich normalerweise nicht viel aus ihrem Abendessen. Es war für gewöhnlich leicht und gesund. Salat oder frisches Gemüse und irgendein mageres Fleisch. Jetzt stand sie da, den Zeigefinger in dem großen italienischen Kochbuch, Der Silberlöffel, und versuchte, sich durch ein Risotto con i gamberi zu kämpfen, was der dänischen Übersetzung zufolge Risotto mit Garnelen bedeutete. Wohlgemerkt riesige Garnelen. Tigergarnelen. Sie lagen auf einem Teller und sahen nicht besonders appetitlich aus. Schwarz und glänzend, und mit diesen langen Beinen eher wie riesige Insekten. Der Geruch erinnerte sie an irgendetwas in der Rechtsmedizin, aber sie wusste, dass er Garnelen liebte.
Amalie war bei ihren Eltern, und sie schämte sich ein wenig dafür, sich frei zu fühlen, weil ihre Tochter nicht um sie herumwuselte und ihre ständige Aufmerksamkeit erforderte. Sie hatte ihm nicht einmal erzählt, dass sie eine kleine Tochter hatte, also was würde er sagen und tun, wenn er es erfuhr? Sie schob den Gedanken beiseite und konzentrierte sich wieder auf das Rezept. Das Wasser begann zu kochen und dann sollten die Garnelen hinein. Als sie sich für dieses Rezept entschieden hatte, hatte sie lächelnd gedacht, wenn es völlig schiefgehen sollte, könnte sie noch immer einfach Benito anrufen und Expertenhilfe von ihm einholen, wie er auch so oft von ihr, nach Feierabend, wenn ihm plötzlich noch etwas einfiel, das er vergessen hatte sie zu fragen. Henry Leander sagte, so wäre er halt einfach. So war Roland Benito. Aber das zeigte nur, dass er seine Arbeit ernst nahm. Aber jetzt, wo es nötig war ihn anzurufen, bekam sie kalte Füße. In dem Rezept stand, dass sie die Schalen der Garnelen in einem Mörser zerstoßen solle. Sie sollten später in einem Püree verwendet werden. Konnte das wirklich stimmen? Sie runzelte die Stirn