Die Leiche! Andreas erschauderte. Dieses Wort klang so geschlechtslos und anonym. Der Text, auf den Pia gedeutet hatte, zeigte, dass es sich um einen Mann handelte. Unser geliebter Vater, Schwiegervater und Großvater, begann er. Ein Mensch mit Familie. Ein Mensch, der nicht mehr war, und den er nun auf diese letzte Reise schicken sollte. Er wusste immer noch nicht, ob er das hier fertig bringen würde.
5
Isabella wirkte erschüttert, als sie endlich aus dem Traumazentrum kam. Nanette bekam immer noch keine Erlaubnis, ihre Freundin zu besuchen, man sagte ihr, sie solle später wiederkommen.
Roland begleitete Isabella nach unten zum Parkplatz. Sie war still und leichenblass.
»Kann ich mit dir fahren? Kim hat mich bloß mit dem Dienstwagen hier abgesetzt.«
»Selbstverständlich.«
Roland öffnete ihr die Beifahrertür und setzte sich danach selbst ans Steuer.
»Hast du etwas aus ihr herausbekommen?«
Er betrachtete Isabellas versteiftes Profil und ließ das Auto an. Er hatte sie selbst während der schlimmsten Obduktionen noch nie so gesehen.
»Männer sind Schweine!«, sagte sie verbissen.
»Nicht alle. Mikkel ist doch ein feiner Kerl!«
Er wollte ein kleines Lächeln bei der Erwähnung ihres Freundes und Lebensgefährten sehen, der mal sein Partner gewesen war. Jetzt war er damit beschäftigt, eine Leiche zu finden, die vom Westfriedhof verschwunden war. Aber Isabella lächelte nicht.
»Der hier muss einfach schnell gefunden werden, Roland. Nicht auszudenken, wenn er wieder zuschlägt! Es ist außergewöhnlich makaber. Du hättest sie gerade sehen sollen. Sie wurde bis zur Unkenntlichkeit verprügelt, er hat sie so gefesselt, dass sie Fleischwunden an den Knöcheln und Handgelenken hat und sie …« Isabella schüttelte den Kopf, gab auf und starrte durchs Seitenfenster hinaus in den Verkehr. Er sah, dass sie Tränen in den Augen hatte und wartete geduldig. Sie hielten an der roten Ampel in der Nørreport, als sie sich gefangen hatte und mit heiserer Stimme fortfuhr.
»Sie hat ernste Verletzungen, sowohl anal als auch vaginal, sagt die Krankenschwester. Sie mussten sie operieren, er … sie …« Es war deutlich, dass Isabella nicht darüber reden wollte. »Er hat einen Gegenstand benutzt, von dem man noch nicht weiß, worum es sich handelt. Maja weiß es auch nicht. Sie ist ohnmächtig geworden, als … Sie mussten ihre Gebärmutter entfernen … sie ist erst 20, verflucht nochmal!«
»Hat sie ihn nicht gesehen? Kann sie nicht einfach eine simple Beschreibung geben? Was auch immer.«
»Nichts. Sie war ins Bett gegangen und eingeschlafen, als er sich plötzlich im Bett auf sie geworfen und ihr den Mund zugehalten hat. Er muss sich irgendwo in ihrer Wohnung versteckt haben. Unheimlich. Sie hatte keine Ahnung, dass er die ganze Zeit dort war und nur darauf gewartet hat, dass sie einschläft. Er hat ihr aufgelauert, während sie gebadet hat, und … aber mehr habe ich nicht aus ihr herausbekommen. Als ich sie gebeten habe, mir eine Personenbeschreibung zu geben, ist sie völlig in Panik geraten. Die Apparate fingen an zu heulen und die Krankenschwester kam hereingestürzt und hat mich rausgejagt. Maja war zu Tode erschrocken, das steht fest.«
»Und sie ist sich sicher, dass sie ihn nicht kennt? Sie hat ihn nicht selbst hereingelassen?«
»Das müsste sie doch verdammt nochmal wissen, wenn sie es getan hätte! Sie hatte keine Ahnung. Plötzlich war er einfach da.«
Roland bog auf den Polizeiparkplatz ein. Wie war der Vergewaltiger reingekommen, wenn sie nicht selbst aufgemacht hatte? Die Tür war ja abgeschlossen, hatte Nanette gesagt. Also, falls sie die Wahrheit sagte.
»Würdest du ihre Familie und Kommilitonen überprüfen? Ihre Freundin im Krankenhaus, die sie gefunden hat, darfst du auch gerne etwas näher unter die Lupe nehmen. Sie heißt Nanette Sunds. Wir müssen wissen, ob ihre Aussage korrekt ist. Du bekommst meinen Bericht über unser Gespräch im Wartezimmer so schnell wie möglich.«
»Aber Maja will nicht, dass ihre Familie informiert wird.«
»Hat sie das gesagt? Was ist das für ein Unsinn? Natürlich müssen sie erfahren, was passiert ist.«
»Ich habe es ihr versprochen, Roland.«
»So etwas kannst du nicht versprechen, Isabella. Wieso dürfen sie nichts davon wissen?«
»Sie sagte, dass sie bloß ihrem Freund die Schuld geben würden. Sie können ihn nicht ausstehen.«
»Und sie ist sich sicher, dass er es nicht war?«
»Ja.«
»Wie das, wenn sie den Vergewaltiger nicht gesehen hat?«
»So etwas weiß man wohl einfach. Sie ist mir ein paar Mal entglitten, also ohnmächtig geworden, und ich habe mich nicht getraut, sie zu sehr unter Druck zu setzen.«
Isabella schnallte sich ab und stieg aus dem Auto. Sie schwankte einen Augenblick, was Roland besorgt registrierte. War es verkehrt gewesen, diese junge Beamtin zu einer so traumatischen Vernehmung eines Opfers in beinahe ihrem eigenen Alter zu schicken? Aber Isabella war die einzige qualifizierte Beamtin, die gerade verfügbar gewesen war. Sie hatten keine andere Wahl gehabt. Sie musste auch lernen, mit so etwas umzugehen, sonst sollte sie sich lieber nach einem anderen Job umsehen.
»Diesen Freund sollten wir sehr gründlich überprüfen. Der Freundin zufolge wohnt er in Kopenhagen, ist aber auf dem Weg hierher.«
Isabella nickte und ging vor ihm zum Aufzug. Schweigend fuhren sie nach oben. Ihre Wangen hatten ein bisschen mehr Farbe bekommen, aber in ihrem Blick lag etwas verborgen, etwas, das eher nach Angst als nach Entsetzen über diesen brutalen Übergriff auf eine junge Frau aussah. Sobald die Aufzugtür aufgeglitten war, ging sie hastig ins Büro, ohne ihn anzuschauen.
»Ich sehe bald einen Bericht von dir, ja, Isabella?«, rief er ihr nach. Zur Antwort hob sie eine Hand.
»Die vom Kriminaltechnischen Zentrum haben angerufen«, sagte die Dame am Empfang, als er an ihr vorbeiging. Sie war bereits so lange dort, dass sie fast zum Inventar gehörte; keiner bemerkte sie. Sie war bloß immer treu zur Stelle in ihrem Bürostuhl, wenn sie nicht in der Kantine war, um für den Chef Kaffee zu holen.
»Irgendeine Nachricht?«
»Du sollst zurückrufen.«
Er nickte nur über diese Selbstverständlichkeit. Sie hatten vielleicht etwas Neues über den Sarg. Kurt Olsens Büro war immer noch leer. Seine Tür war offen und der schwache Duft von Tabak wogte hinaus, aber Roland spürte kein Verlangen nach Nikotin. Nur das Kaugummi war immer noch sein Laster, aber daran hatte er sich so gewöhnt, dass er es wohl nie wieder ablegen würde. Es war zu einem Teil seiner Persönlichkeit geworden – wie einst die Zigaretten.
Das Kriminaltechnische Zentrum hatte keine Spuren im Sarg gefunden, die beweisen konnten, dass tatsächlich ein Mensch darin gelegen hatte.
»Auf dem Seidenfutter haben wir Haare gefunden, aber die scheinen auf den ersten Blick nicht von einem Menschen zu stammen«, sagte der Techniker.
Roland kratzte sich den Nacken. »Nicht von einem Menschen? Aber was in aller Welt ist es dann?« Sofort befürchtete er die Antwort »Vampir« oder »Werwolf«, aber der junge Kriminaltechniker hatte dieses Mal offenbar keine Horrorkomödie-artigen Ideen.
»Sie wurden zur näheren Analyse geschickt«, entgegnete er nur.
Sonst gab es nichts Verwendbares. Die Fingerabdrücke auf dem Sarg waren nach der Zeit in der feuchten Erde unbrauchbar.
Kim hatte das Bestattungsunternehmen ausfindig gemacht, das für die Zeremonie verantwortlich war, sodass Roland mit dem Inhaber sprechen konnte, die Nachricht lag auf seinem Tisch. Roland seufzte laut. Nach einer Leiche zu suchen wirkte so unverhältnismäßig, besonders,