Harald Lund Iversens Leiche war sofort freigegeben worden, damit seine Frau Lissi mit der Beerdigung nicht warten musste. Sie war widerwillig mitgegangen, als der Sarg ihres Sohnes ausgegraben und zur näheren Untersuchung ins Kriminaltechnische Zentrum gebracht worden war.
»Na, was hat die Witwe gesagt?«
Kurt Olsen stand auf einmal in der Türöffnung und hatte vergessen, die goldene, blank polierte Stanwell-Pfeife, die seiner Unterlippe einen leicht hängenden Zug gab, aus dem Mundwinkel zu nehmen. Sonst rauchte er nur in seinem eigenen Büro. Er rückte seinen Krawattenknoten zurecht und sah aus wie jemand, der auf dem Weg zu einer der gewöhnlichen Besprechungen war, auf die die hohen Tiere stets viel Zeit verwendeten. Diese Meetings waren in Rolands Augen nichts als reine Zeitverschwendung, die von anderen wichtigen Aufgaben abhielt.
»Ihr Sohn hätte in diesem Sarg liegen sollen. Er ist vor einer Woche bei einem Motorradunfall gestorben und wurde gerade erst beerdigt.«
»Verdammt nochmal, die arme Frau! Hat sie irgendeine Ahnung, warum ihr Ehemann ihren Sohn ausgraben wollte? Irgendwie ungewöhnlich und bizarr, nicht?«
Roland nickte. »Selbstverständlich war sie völlig schockiert darüber, auch ihren Mann so plötzlich zu verlieren, und natürlich nicht weniger über den leeren Sarg ihres Sohnes. Das Handeln ihres Mannes war ihr ganz und gar unverständlich. Als ich gehen wollte, fiel ihr allerdings plötzlich etwas ein.«
Der Vizepolizeidirektor bemerkte, dass er die Pfeife noch immer im Mund hatte und stopfte sie in seine Jackentasche.
»Und was?«
»Es bestand wohl ein großes Interesse an den Organen ihres Sohnes. Der Junge lag einige Tage, nachdem ihn die Ärzte für hirntot erklärt hatten, im Koma. Ein künstliches Koma, das einzig dazu diente, seine Organe am Leben zu erhalten. Kein Elternteil wünscht sich, dass ihr Sohn als Ersatzteillager für andere benutzt wird, wie sie es ausdrückte.«
»Eine etwas egoistische Haltung, wenn man weiß, wie viele Patienten auf ein neues Organ warten.«
»Das ist wohl etwas anderes, wenn es plötzlich aktuell wird und um die eigenen Lieben geht. Man hofft ja immer, dass sie doch überleben.«
Kurt Olsen schüttelte den Kopf und kratzte sich am Hals. Der Hemdkragen und der Schlips schienen ihn plötzlich zu stören.
»Harald Lund Iversen hat nicht darauf vertraut, dass man ihre Wünsche respektieren würde, weil man sie unter Druck setzte. Als wären die Körperteile ihres Sohnes plötzlich eine beliebige ›Exportware zum Verkauf für den Meistbietenden‹ geworden, wie sie sich ausdrückte.«
»Beliebig waren sie ja auf jeden Fall nicht«, unterbrach Kurt.
»Es hat Harald Inversen so sehr umgetrieben, dass er …«
»Dass er selbst kontrollieren wollte, ob sein Sohn, nennen wir es intakt in seinem Grab lag. Ist das die Erklärung?«, mischte sich Kurt wieder ein, als ob er keine Zeit hätte, auf Rolands Bericht zu warten.
Roland nickte. »Es deutet einiges darauf hin, ja.«
»Und dann findet er den Sarg leer vor! Kein Wunder, dass er einen Herzstillstand hatte. Aber wo zum Teufel ist die Leiche abgeblieben? Und wann ist sie verschwunden? Sicher vor der Beisetzung?«
»Ja, davon darf man fast ausgehen. Es ist höchst ungewöhnlich. Wo suchen wir nach einer Leiche?«
»Die Sargträger müssen doch gemerkt haben, dass er leer war, sollte man annehmen. Was wiegt ein leerer Sarg?«
Roland zuckte die Schultern. Woher sollte er das wissen? Der Sarg seiner Mutter hatte ungefähr eine Tonne gewogen, so hatte es sich angefühlt, aber das war nicht nur dem Sarg geschuldet. Salvatores hingegen, ein magerer junger Körper von knapp fünfzehn Jahren …
»Auf dem Bild, das wir im Portemonnaie des Vaters gefunden haben, sieht der Sohn aus, als ob er schmächtig gewesen ist, wenn er also nicht besonders viel gewogen hat, haben die Träger es vielleicht nicht bemerkt«, murmelte er.
»Hat die Kriminaltechnik keine Spuren im Sarg gefunden?«
»Sie sind noch nicht fertig mit der Untersuchung.«
Kurt Olsen streckte nonchalant seinen Arm aus und beugte ihn, sodass der Jackenärmel automatisch hoch glitt und er die Ziffern auf seiner modernen Armbanduhr sehen konnte.
»Ich gehe jetzt zu einer Besprechung, die dauert sicher den restlichen Nachmittag. Hältst du mich auf dem Laufenden?«
Roland stapelte einige Papiere, um beschäftigt zu wirken.
»Selbstverständlich.«
Der Fall war wirklich recht ungewöhnlich und konnte nicht wie ein anderer angegangen werden. Gehörte er überhaupt auf seinen Tisch? Eine verschwundene Leiche! Als ob sie nichts anderes zu tun hätten. Kurt Olsens Wohlwollen dem verhältnismäßig neuen Bürgermeister gegenüber kannte offenbar keine Grenzen. Es war ein Skandal, dass so etwas auf einem von Aarhus’ besten städtischen Friedhöfen passieren konnte. Wenn die Presse Wind von dieser Geschichte bekam, wollte er sich die Schlagzeilen gar nicht vorstellen: Leichenraub? Scheintod? Wiederauferstehung?
Fast glaubte er, dass ein Fluch auf dem Tag lag, als in diesem Moment das Telefon klingelte und ihre überforsche Stimme in sein Ohr drang:
»Ich war gerade beim Westfriedhof, was ist da los? Warum habt ihr ein Gebiet da draußen abgesperrt? Ist jemand tot?«
»Was hast du denn auf einem Friedhof erwartet?«, antwortete er müde und abweisend und nicht einmal, um witzig zu sein.
»Ich hab‘ gehört, dass es dem Mann gelungen ist, seinen Sohn auszugraben, ist das korrekt?«
Roland schloss die Augen und drückte Daumen und Mittelfinger fest gegen seine Schläfen. »Wer um alles in der Welt hat dir diese Information gegeben?«
»Ein Journalist von der BT. Stimmt das?«
»Nein, Anne. Das stimmt nicht, und ich gebe im Übrigen keinen Kommentar ab. Woher hast du meine neue Nummer?«
Er bekam keine Antwort, aber spürte ihren Eifer nach schlüpfrigen Details wie Elektrizität durch‘s Telefon vibrieren.
»Komm schon, Roland. Du weißt, dass ich es trotzdem irgendwie herausfinde, also kannst du mir genauso gut die richtige Version geben.«
»Ist dir nicht egal, ob die es vielleicht schon ist?«
Er vernahm ein ärgerliches Seufzen.
»Natürlich nicht. Nachrichten-Online ist ein sehr seriöses Nachrichtenportal, andere Zeitungen kaufen nicht umsonst unsere Artikel.«
Ja, leider Gottes, dachte er.
»Vielleicht ist es gar kein Verbrechen. Der Mann ist eines natürlichen Todes gestorben. Es war ein Herzstillstand, das kannst du schreiben, dann können wir das schon mal klarstellen.«
»Aber der Sarg war ja leer. Wo ist dann die Leiche? Grabschändung ist doch ein Verbrechen.«
Er wusste es. Es musste eine makabre Sensation geschaffen werden, das war das Mantra der Journalisten, und Anne Larsen war eine Meisterin in dieser Disziplin.
»Kein weiterer Kommentar, wie ich bereits sagte. Wenn du das nicht akzeptierst, muss ich auflegen.« Er tat es, bevor sie antworten konnte, weil er wusste, dass sie wie gewöhnlich nicht locker lassen würde.
Eine Zeit lang hatte er bei seiner Arbeit Frieden vor ihr gehabt, als die kleine Redaktion, für die sie früher als Kriminalreporterin gearbeitet hatte, in dem Massengrab der gedruckten Zeitungen unterging und sie eine neue Karriere als Reinigungsfachkraft gestartet hatte. Aber jetzt war