5In: Barth, Karl: Das Wort Gottes und die Theologie. Gesammelte Vorträge, Chr. Kaiser Verlag, München 1925.
6Siehe: Walker Percy, The Message in the Bottle, Farrar, Straus and Giroux, New York 1975, S. 119–149.
7In: Updike, John: Updike und ich. Essays, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002, S. 536 u. 553 (Originalausgabe: John Updike, More Matter, Alfred A. Knopf, New York 1999, S. 843, 851).
8Franz Kafka an Oskar Pollak, 27. Januar 1904, in: Kafka, Franz: Briefe 1902 – 1924, S. Fischer, 1998, S. 27f.
9Berry, Wendell: Collected Poems 1957 – 1982, North Point, San Francisco 1985, S. 121.
10Austin Farrer, The Glass of Vision, Dacre, Westminster 1948, S. 36.
11Worum es bei diesem „Unerhörten“ tatsächlich geht, wird in Teil II, Lectio Divina genauer erläutert.
I
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„Ich selbst bin das Brot, das euch dieses Leben gibt! Eure Vorfahren haben in der Wüste das Manna, das Brot vom Himmel, gegessen und sind doch alle gestorben. Aber hier ist das wahre Brot, das vom Himmel kommt. Wer davon isst, wird nicht sterben.“
JOHANNES 6,48–50
„Viel zu wissen und nichts zu schmecken – wozu soll das gut sein?“
BONAVENTURA
KAPITEL 2
Die Heilige Gemeinschaft am Tisch mit der Heiligen Schrift
Der biblische Text ist die Grundlage für das geistliche Leben eines Christen. Dieses geistliche Leben ist vollkommen im biblischen Text verwurzelt und durch ihn geprägt. Wir schaffen uns nicht unser persönliches geistliches Leben aus einer zufälligen Ansammlung von Lieblingstexten, kombiniert mit unseren persönlichen Lebensumständen. Wir werden vom Heiligen Geist in Übereinstimmung mit dem Text der Heiligen Schrift geformt. Gott beauftragt uns nicht damit, unsere eigene persönliche Spiritualität zu schaffen. Wir wachsen in Übereinstimmung mit dem offenbarten Wort, das uns durch den Geist eingepflanzt wird.
Die einzigartige Position der Heiligen Schrift als der prägende Text für Christen wurde immer wieder in Frage gestellt. Durch alle Jahrhunderte hindurch haben Menschen sich für andere Wege entschieden, auf denen sie sich Richtung und Führung für ihr Leben als Christ erhofften. Doch die Kirchengemeinschaft hat diese Wege immer wieder abgelehnt und hält an der Bibel fest, der Bibel als verbindliche Grundlage.
Beispielsweise lehnen wir es ab, wenn Menschen sich in schwärmerische Ekstasen hineinsteigern, um dadurch Verbindung zu Gott aufzunehmen. Extreme Gefühlszustände sind sehr anziehend, besonders für Heranwachsende. Sie bieten eine aufregende Unmittelbarkeit. Es fühlt sich so, na ja, so authentisch, so lebendig an. Dieser Seelenzustand läuft mittlerweile unter den Sammelbegriff „Enthusiasmus“ und hat schon viele erfasst, sie auf Irrwege der Selbsterfüllung und in ausweglose Abhängigkeit geführt. Unsere klügsten Gelehrten warnen uns nach wie vor vor ihnen.12 Wir sagen „Nein“ zu moralischen Herkulestaten, mit denen wir unser göttliches Potenzial abrufen und zur Schau stellen. Heldenhafte Herausforderungen, besonders der moralischen Art, pumpen Adrenalin in unseren Blutkreislauf und befreien uns vom alltäglichen Klein-Klein, das uns im Sumpf des Gewöhnlichen gefangen hält. Wir sagen „Nein“ dazu, sich in eine Berghöhle zurückzuziehen und sich von allen Gedanken, Gefühlen und Wünschen zu befreien, bis nichts mehr übrig ist, was uns den direkten Zugang zur Wirklichkeit verstellt. Das hat so etwas Reines, Einfaches, Ordentliches. Der Zen Koan ersetzt den biblischen Text.
Allerdings ist der beliebteste „Text“ in Amerika im Augenblick der des unabhängigen Ich. Vor Kurzem erzählte mir ein Freund von einem Bekannten, der sein Leben lang die Bibel gelesen hatte und eines Tages feststellte, dass sein Leben sich nicht so entwickelte, wie es ihm die Bibel seiner Ansicht nach vorausgesagt hatte. Er entschloss sich dann sofort dazu, „seinem Leben die Autorität zu übergeben und nicht der Bibel.“ Der Großteil unserer Kultur, sowohl der säkulare als auch der religiöse Teil, unterstützt die Entscheidung dieses Mannes. Es ist charakteristisch für die aufkeimende, vielfältige Spiritualität von heute, das souveräne Ich als Lebenstext zu etablieren. Die Ergebnisse machen allerdings wenig Mut: Das plötzlich so große Interesse an spirituellen Dingen zu Beginn dieses Jahrtausends scheint kein größeres Engagement für Gerechtigkeit und treue Liebe zu produzieren, was ja zwei der sichtbareren Begleiterscheinungen eines guten, geheiligten Christenlebens sind. Tatsächlich sind wir an einem Punkt angekommen, wo „Spiritualität“ eher das Bild eines Möchtegern-Gurus für Transzendenz heraufbeschwört als das von einem Leben in Strenge, großer Freude, Güte und Gerechtigkeit – was genau die Art von Leben ist, mit dem der Begriff ursprünglich verknüpft war.
Christen kommen nicht darum herum, sich der Beliebtheit dieser selbstherrlichen Spiritualitäten bewusst zu werden, manchmal sogar von dem einen oder anderen spirituellen Feuerwerk beeindruckt zu sein, hin und wieder sogar ein erstauntes „Oh“ und „Ah“ nicht unterdrücken zu können. Doch bei genauerer Betrachtung ist es nicht empfehlenswert, ihnen nachzurennen. Ganz im Gegensatz zu diesen eigennützigen und glamourösen Spiritualitäten, ist die unsere ein Fußmarsch. Wir sind wortwörtlich Fußgänger: Wir setzen einen Fuß vor den anderen, während wir Jesus folgen. Und um zu erfahren, wer er ist, wohin er geht und wie wir seinen Schritten folgen können, greifen wir zu einem Buch, dem Buch und lesen es.
Ich will der weit verbreiteten Praxis entgegenwirken, eigene Erfahrungen als Maßstab für unser Leben zu nehmen und nicht die Heilige Schrift. Ich möchte die Bibel, die in unseren zeitgenössischen Vorstellungen durch ihre glamourösen Konkurrenten so rüde an den Rand gedrängt wurde, wieder ins Zentrum zurückholen, als den Lebenstext für ein tiefes und gutes Leben als Christ. Ich möchte aufdecken, wie die Autorität der Bibel durch die Autorität des Ich ersetzt wurde, und dem entgegentreten. Ich will persönliche Erfahrungen unter die Autorität der Bibel stellen und nicht über sie. Ich möchte uns die Bibel als den Text vor Augen führen, nach dessen Anleitung wir leben, diesen Text, der in so scharfem Kontrast steht zur bunten Mischung aus religiöser Psychologie, Selbstentfaltung, mystischen Experimenten und frommem Dilettantismus, die mittlerweile vieles charakterisieren, was sich unter dem Schirm der „Spiritualität“ sammelt.
Es besteht heutzutage großes Interesse an der Seele. In der Kirche zeigt sich dieses Interesse in einer Wiederbelebung von Dingen wie geistlicher Theologie, geistlicher Leiterschaft, geistlicher Führung und geistlicher Entwicklung. Allerdings geht dies nicht Hand in Hand mit einem wiederbelebten Interesse an der Heiligen Schrift. Für geistliche Theologie, geistliche Leiterschaft, geistliche Führung und geistliche Entwicklung müssen wir dem Werk des Heiligen Geistes Raum geben in unseren persönlichen und geschäftlichen, öffentlichen und politischen Lebensbereichen. Doch jene, die sich für dieses Werk interessieren, sind häufig, man kann fast sagen normalerweise, nicht an der Heiligen Schrift interessiert, dem Buch, das uns vom Heiligen Geist gegeben wurde. Es ist dringend nötig,