Eine Parabel darüber, wie die Bibel zu einem Objekt entpersönlicht wird, dem man die Ehre erweist; die Bibel, abgekoppelt von Ursache und Wirkung, von Mittagessen und Museum; die Bibel in einem Park, weit entfernt vom Alltag der Straße, ein Text auf einem Podest, abgeschirmt vom Lärm und Dieselgestank der 40-Tonner durch eine weitläufige, gepflegte Rasenfläche.
Es ist das Werk des Teufels, wenn er fortsetzt, was jetzt noch reizend und unschuldig an Hans ist. Hans bleibt dann sein Leben lang ein andächtiger, aber gleichgültiger Leser.
Dem Teufel entgegenzuwirken heißt, meine ich, die Bibel angemessen und sorgfältig zu lesen. Und das bedeutet, dass wir sie gleichzeitig auch leben. Sie zu leben ist dabei nicht die Bedingung für das Lesen und auch nicht dessen Folge. Vielmehr leben wir die Bibel, während wir sie lesen, erleben die Wechselwirkung zwischen Leben und Lesen, Körpersprache und gesprochenem Wort, das Geben und Nehmen, welches das Lesen zum Leben und das Leben zum Lesen macht. Die Bibel lesen und das Wort leben lassen sich nicht voneinander trennen. Vielmehr ist das Lesen ein fester Bestandteil des Lebens. Das bedeutet, dass wir einem anderen ein Mitspracherecht einräumen bei allem, was wir sagen und tun. So einfach ist das. Und so schwer.
KAPITEL 1
„Die unerhörte Gewohnheit des geistlichen Lesens“
Vor vielen Jahren besaß ich einen Hund, der eine Vorliebe für große Knochen hatte. Zu seinem Glück lebten wir damals im bewaldeten Hügelvorland von Montana. Auf seinen Streifzügen durch den Wald fand er oft die Überreste von Weißwedelhirschen, die von Kojoten gerissen worden waren. Wenig später erschien er dann auf unserer Steinterrasse am Seeufer und zog seine Trophäe hinter sich her, für gewöhnlich ein Schenkel oder ein Rippenstück. Er war ein kleiner Hund und der Knochen war manchmal fast so lang wie er selbst. Jeder Hundebesitzer weiß, was jetzt kommt: Mit seiner Beute tänzelte er verspielt vor uns herum und wedelte mit dem Schwanz. Er war stolz auf seinen Fund und er bettelte um unsere Anerkennung. Und natürlich zeigten wir sie ihm: Wir überschütteten ihn mit Lob, sagten ihm, was er doch für ein guter Hund sei. Kurz darauf, nachdem er unseren Applaus ausgekostet hatte, zog er sich mit seinem Knochen an einen privateren Ort zurück, für gewöhnlich in den Schatten eines etwa 20 Meter entfernten, moosbewachsenen Steinbrockens. Dort bearbeitete er seinen Knochen. Der Knochen hatte keine soziale Bedeutung mehr für ihn. Nun widmete er sich ganz seinem privaten Vergnügen. Er nagte an dem Knochen, drehte ihn hin und her, leckte daran, jagte ihm Angst ein. Manchmal hörten wir ein leises Grollen und Knurren. Bei einer Katze würde man Schnurren sagen. Er hatte offensichtlich seinen Spaß und sah keinen Grund zur Eile. Nach ein paar vergnüglichen Stunden vergrub er den Knochen und buddelte ihn dann am nächsten Tag wieder aus. Ein durchschnittlicher Knochen hielt ungefähr eine Woche.
Das Vergnügen meines Hundes war auch mein Vergnügen. Ich freute mich an seinem spielerischen Ernst, seiner kindlichen Spontaneität, die geprägt war vom „Wichtig ist nur eins!“. Stellen Sie sich aber meine noch größere Freude vor, als ich eines Tages auf eine Stelle in Jesaja stieß, in der der Dichter-Prophet etwas beobachtete, das dem ähnelte, was ich an meinem Hund so mochte. Der einzige Unterschied ist, dass es bei Jesaja ein Löwe war und kein Hund: „Ein junger Löwe verteidigt knurrend seine Beute“ (Jes. 31,4). „Knurren“ ist das Wort, das meine Aufmerksamkeit erregte und mir diesen besonderen freudigen Kick versetzte. Was mein Hund da von sich gab, während er an seiner Errungenschaft nagte, sich daran freute und sie genoss, das tat Jesajas Löwe mit seiner Beute. Zum wahren Kern meiner Freude drang ich vor, als ich feststellte, dass das hebräische Wort, das hier als „knurren“ (hagah) übersetzt wird, normalerweise mit „nachdenken“ oder „sinnen“ übersetzt wird, so wie in Psalm 1, wo glücklich ist, „wer Freude hat am Gesetz des Herrn und darüber nachdenkt – Tag und Nacht“ (V. 2). Genauso in Psalm 63: „Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach“ (V. 7; Luther 1984). Doch Jesaja verwendet dieses Wort, um einen Löwen zu beschreiben, der sich knurrend über seine Beute duckt, genauso wie mein Hund es mit seinem Knochen tat.
Hagah ist ein Wort, das unsere hebräischen Vorfahren häufig für das Lesen von Texten verwendeten, in denen es um die Seele geht. Allerdings ist „Nachdenken“ viel zu schwach, um die wahre Bedeutung wiederzugeben. „Nachdenken“ oder „meditieren“ scheinen das zu beschreiben, was man kniend in einer stillen Kapelle tut, während auf dem Altar eine Kerze brennt. Oder was meine Frau tut, wenn Sie in einem Rosengarten sitzt, die Bibel aufgeschlagen auf dem Schoß. Wenn allerdings Jesajas Löwe und mein Hund meditierten, dann nagten sie und schluckten, benutzten Zähne und Zunge, Magen und Darm: Jesajas Löwe meditiert über seiner Ziege (sofern es das war); mein Hund meditiert über seinem Knochen. Es gibt eine Art zu schreiben, die eine bestimmte Art des Lesens fordert: sanftes Schnurren, leises Knurren, während wir sie schmecken und genießen, erahnen und aufnehmen, die süßen, würzigen, verführerischen und die Seele stärkenden Wortbissen – „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“ (Ps. 34,9; Luther 1984). Nur wenige Seiten später verwendet Jesaja das gleiche Wort (hagah) für das Gurren einer Taube (38,14). Ein besonders aufmerksamer Leser dieses Textes erfasste genau den Geist hinter diesen Worten, als er sagte, dass hagah beschreibt, wie ein Mensch „sich in seine Religion verliert“.1 Genau so ging es meinem Hund mit seinem Knochen. Baron Friedrich von Hügel verglich diese Art des Lesens mit dem „langsamen, kaum wahrnehmbaren Zerschmelzen eines Bonbons im Mund.“2
Ich möchte diese Art des Lesens fördern. Meiner Meinung nach ist es die einzige Art zu lesen, die zu dem Text der Heiligen Schrift passt und genauso auch zu anderer Literatur, die dazu gedacht ist, unser Leben zu verändern und nicht nur unsere Gehirnzellen mit Futter zu versorgen. Ernsthafte und gute Literatur setzt genau dieses Lesen voraus – gedankenvoll und gemächlich, eine Tändelei mit Worten, nicht Informationenfraß in Höchstgeschwindigkeit. Für unsere kanonischen Schreiber, die sich darum mühten, Gottes Offenbarung in hebräische, aramäische und griechische Sätze zu verpacken – Mose und Jesaja, Hesekiel und Jeremia, Markus und Paulus, Lukas und Johannes, Matthäus und David, zusammen mit ihren zahlreichen bekannten und unbekannten Brüdern und Schwestern durch alle Jahrhunderte hindurch – ist sie unabdingbar. Diese Autoren wurden vom Heiligen Geist eingesetzt, um uns die Heilige Schrift zu übermitteln, um uns in Kontakt mit der Wirklichkeit zu bringen und uns zu befähigen, auf sie zu reagieren, sei sie sichtbar oder unsichtbar: Gottes Wirklichkeit, Gottes Gegenwart. Sie alle zeichnen sich aus durch ein tiefes Vertrauen in die „Macht der Worte“ (Coleridge), die uns in die Gegenwart Gottes bringen und unser Leben verändern können. Wenn wir die Nähe zu den Autoren der Heiligen Schrift suchen, dann lernen wir eine Art des Lesens und Schreibens kennen, die von großem Respekt geprägt ist – mehr noch als Respekt, ehrfürchtiger Verehrung – für die offenbarende und verändernde Macht der Worte. Die erste Seite des christlichen Lebenstextes, der Bibel, erzählt uns, dass der gesamte Kosmos und jede lebende Kreatur durch Worte ins Leben gerufen wurden. Johannes wählt den Begriff „Wort“, um ein für alle Mal zu beschreiben, was Jesus am stärksten auszeichnet, die Person im offenbarten und offenbarenden Mittelpunkt der Geschichte des Christentums. Gesprochene und geschriebene Sprache ist das Mittel der Wahl, um uns klar vor Augen zu führen, was ist, wer Gott ist und was er tut. Allerdings ist es eine ganz besondere Art von Sprache, die nicht aus Worten besteht, die unserem Leben fremd sind, sondern vielmehr aus solchen, wie sie auf Einkaufslisten stehen, in Gebrauchsanweisungen, in französischen Grammatiken und in Basketballregeln.
Diese manchmal provozierenden, manchmal indirekten Worte sind dazu gedacht, in uns einzudringen, auf unsere Seelen zu wirken, ein Leben zu formen, das sich deckt mit der Welt, die Gott geschaffen hat, mit der Rettung, die er ermöglicht hat und der Gemeinde, die er versammelt hat. Solche