Ich will über keine dieser Gruppen von Bibellesern ein zu hartes Urteil fällen, insbesondere weil ich selbst viel Zeit in jeder dieser Gruppen zugebracht habe, aber ich will auf die augenfällige Tatsache hinweisen, dass, egal in welcher Gruppe du dich befindest, du die Bibel für deine eigenen Zwecke verwendest und dazu musst du unter Umständen keine Beziehung eingehen. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man offen und ehrlich an die Bibel herangeht, sich auf ihre intellektuellen Herausforderungen oder ihre moralische Führung einlässt oder die geistliche Ermutigung, die man erhält, und sich nicht einen Moment mit dem sich selbst offenbarenden Gott auseinandersetzt, der einen Plan für mich hat.
Oder um es in den Worten zu sagen, mit denen wir begonnen haben: Man kann die Bibel aus vielen verschiedenen Blickwinkeln lesen und aus mancherlei Gründen, ohne sich mit Gott, wie er sich selbst offenbart hat, auseinanderzusetzen, ohne sich unter die Autorität des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu stellen, der in allem, was wir sind und tun, lebendig und gegenwärtig ist.
Um es deutlich auszudrücken: Nicht jeder, der sich für die Bibel interessiert oder sich sogar dafür begeistert, will auch wirklich etwas mit Gott zu tun haben.
Doch es ist Gott, um den es in diesem Buch geht. In seinem letzten Buch schrieb C. S. Lewis von zwei Arten des Lesens: das Lesen, bei dem wir das Buch für unsere eigenen Zwecke verwenden und das Lesen, bei dem wir die Absicht des Schriftstellers aufnehmen. Das erste führt nur zu schlechtem Lesen. Das zweite hat das Potenzial zu gutem Lesen:
Wenn wir es „aufnehmen“, bemühen wir unsere Sinne und unsere Vorstellungskraft und verschiedene andere Kräfte entsprechend einem vom Künstler erdachten Muster. Wenn wir es „gebrauchen“, behandeln wir es als Hilfe für unsere eigenen Betätigungen. … „Gebrauchen“ ist dem „Aufnehmen“ unterlegen, weil die Kunst, wenn sie gebraucht, statt aufgenommen wird, unser Leben nur erleichtert, aufhellt, entspannt oder beschönigt, aber nicht bereichert.“15
Aus diesem Grund ist es bei der Annäherung an dieses Buch, die Bibel, so wichtig, dass wir erkennen, was die Kirche als Dreieinigkeit formuliert hat. Wir lesen, um Anteil zu haben an der Offenbarung Gottes, der so nachdrücklich personal ist. Wir lesen die Bibel so, wie sie auf uns zukommt, und nicht, wie wir auf sie zukommen. Wir unterwerfen uns den unterschiedlichen und sich ergänzenden Handlungen Gottes des Vaters, Gottes des Sohnes und Gottes des Heiligen Geistes. Wir empfangen diese Worte, um jetzt und für alle Ewigkeit zur Ehre Gottes gestaltet zu werden.
Die Ersatz-Dreieinigkeit
Es gibt heutzutage eine neue Tendenz, die Bibel ohne Bezug zur Dreieinigkeit zu lesen. Dieser Trend hat sich zu einer Epidemie ausgebreitet und sollte sorgfältig beobachtet werden. Die beste Beschreibung dafür ist, meiner Meinung nach, Ersatz-Dreieinigkeit. Ganz im Gegensatz zum beziehungslosen Lesen des Textes, das wir gerade kennengelernt haben (intellektuell, praktisch, erbaulich), ist diese Art des Lesens höchst personal und auch sehr trinitarisch, steht aber trotzdem im völligen Widerspruch zu dem, was man erreicht, wenn man unter der Führung der Heiligen Dreieinigkeit liest.
Nähert man sich der Heiligen Schrift mit trinitarischen Gedanken und Gebeten, dann entwickeln wir eine Haltung und innere Einstellung, mit der wir uns der vollkommenen Formung durch Gott unterstellen, genau so, wie Gott sich vollkommen und personal in der Heiligen Schrift als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart. Die Alternative ist, dass wir unsere Formung selbst in die Hand nehmen. Der beliebteste Weg zu dieser Selbstgestaltung ist es heutzutage, das Ich in einer Art Dreieinigkeit zu sehen. Diese Art des Selbstverständnisses hat nichts mit dem intellektuellen Interesse an Ideen oder der Suche nach einem moralisch guten Leben oder dem Streben der Seele nach individuellem Trost zu tun. Vielmehr steht das göttliche Ich im Mittelpunkt, das über das eigene Ich waltet. Und dieses göttliche Ich wird als Heilige Dreieinigkeit verstanden.
Es funktioniert folgendermaßen. Zunächst ist es wichtig zu erkennen, dass bei der Gestaltung dieser neuen Dreieinigkeit, die das eigene Ich als den unangefochtenen Lebenstext definiert, die Bibel weder ignoriert noch ausgeschlossen wird; vielmehr nimmt sie einen Ehrenplatz ein. Allerdings wird die dreieinige Person Vater, Sohn und Heiliger Geist durch eine sehr individualisierte personale Dreieinigkeit, bestehend aus meinen Heiligen Wünschen, meinen Heiligen Bedürfnissen und meinen Heiligen Gefühlen, ersetzt.
Wir leben in einer Zeit, in der wir von der Wiege an lernen, uns für das zu entscheiden, was für uns das Beste ist. Wir durchlaufen ein paar Ausbildungsjahre, doch dann schickt man uns alleine los. Das Training beginnt schon sehr früh. Sobald wir einen Löffel halten können, dürfen wir uns zwischen einem halben Dutzend verschiedener Frühstücksflocken, von Cheerios bis Cornflakes, entscheiden. Unser Stil, unsere Neigungen, unser Geschmack werden laufend abgefragt. Schon früh entscheiden wir, was wir anziehen und wie wir uns die Haare schneiden lassen. Die Auswahl wird immer größer: welchen Fernsehsender schalten wir ein, welche Fächer wählen wir in der Schule, auf welche Universität gehen wir, welche Kurse besuchen wir, welches Auto in welcher Farbe kaufen wir, welcher Gemeinde schließen wir uns an. Wir lernen früh und werden im Laufe der Jahre immer wieder darin bestärkt, dass wir ein Mitspracherecht bei der Gestaltung unseres Lebens haben, innerhalb bestimmter Grenzen sogar das alleinige Sagen. Sofern die Gesellschaft dies ordentlich erledigt – und scheinbar ist sie bei den meisten von uns äußerst effektiv – dann werden wir zu Erwachsenen, die davon ausgehen, dass unsere Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle das göttliche Kontrollzentrum unseres Lebens darstellen.
Die neue Heilige Dreieinigkeit. Das unabhängige Ich drückt sich aus durch Heilige Bedürfnisse, Heilige Wünsche und Heilige Gefühle. Zeit und Verstand, die unsere Vorfahren darauf verwandten, die Souveränität zu verstehen, die sich in Vater, Sohn und Heiligem Geist offenbart, werden von unseren Zeitgenossen dazu eingesetzt, die Souveränität unserer Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle zu bestätigen und für gültig zu erklären.
Meine Bedürfnisse sind nicht verhandelbar. Meine so genannten, selbst definierten Rechte, sind die Basis meiner Identität. Mein Bedürfnis nach Erfüllung, nach Meinungsäußerung, nach Bestätigung, nach sexueller Befriedigung, nach Respekt, mein Bedürfnis zu tun, was ich mag – all das ist Grundlage für die zentrale Position des Ich und schützt mich vor der Bedeutungslosigkeit.
Meine Wünsche sind Ausdruck meines wachsenden herrscherlichen Empfindens. Ich lerne groß zu denken, weil ich groß bin, wichtig, entscheidend. Ich bin größer als das Leben selbst und deshalb benötige ich immer mehr Güter und Dienstleistungen, mehr Dinge und mehr Macht. Konsum und Eigentum sind die neuen Früchte des Geistes.
Meine Gefühle drücken aus, wer ich wirklich bin. Jede Sache oder Person, die mir ein Hochgefühl verschafft, Aufregung, Freude, Impulse, spirituelle Verbindungen, bestätigt meine Unabhängigkeit. Natürlich muss dafür ein Heer an Therapeuten, Reisebüros, technischen Geräten und Maschinen, Freizeitaktivitäten und Unterhaltungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Nur so können die Teufel der Langeweile, der Ungewissheit und der Unzufriedenheit vertrieben werden – allesamt Gefühle, die meine Selbstbestimmtheit untergraben oder infrage stellen.
Während der letzten zweihundert Jahre entstand eine riesige Literaturgattung, gelehrt und populärwissenschaftlich, die sich damit beschäftigt, die Heilige Dreieinigkeit der Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle, die das unabhängige Ich ausmachen, zu verstehen. Eine ungeheure Menge an Wissen wurde hier angehäuft. Unsere neue Kaste geistlicher Meister setzt sich zusammen aus Wissenschaftlern und Wirtschaftsspezialisten, Ärzten und Psychologen, Erziehern und Politikern, Schriftstellern und Künstlern. Sie sind genauso intelligent und leidenschaftlich wie unsere frühen Kirchentheologen und genauso religiös und ernsthaft bei der Sache, denn sie wissen,