Die ersten Metaphern über das Schreiben und Lesen, die wirklich mein Interesse weckten, kamen von Kafka: „Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? … Ein Buch muss wie die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“8 Zu dieser Zeit war ich Pastor und setzte mich deshalb beruflich damit auseinander, Menschen zum Bibellesen zu motivieren. Es erschreckte mich, dass sie die Bibel nicht anders lasen als den Sportteil oder einen Comic oder die Kleinanzeigen. Ich wollte die Menschen aufwecken und sie verändern. Ich wollte, dass sie die Bibel als einen Faustschlag sahen, einen Eispickel. Im Rückblick muss ich eingestehen, dass meine Strategie in erster Linie darin bestand, manchmal etwas lauter zu werden. Ich erkannte nicht, wie gewalttätig diese Metaphern waren. Ich wollte einfach etwas anstoßen. Doch dann brachte mich eine Frage von Wendell Berry zum Stutzen: „Bist du endlich fertig damit, alle umzubringen, die keinen Frieden wollten?“9 Mir wurde klar, dass die Gewalt, die diese Metaphern unterstellten, nicht wirklich meinem Vorhaben dienlich waren, nämlich Christen anzuleiten, die Heilige Schrift als Nahrung für ihre Seelen wahrzunehmen. Zwangsernährung ist vermutlich nicht der beste Weg, um die Einzigartigkeit des Bibellesens, des geistlichen Lesens, zu vermitteln.
Schließlich stellte ich fest, dass das eindringlichste biblische Bild für das Lesen das von Johannes ist, der ein Buch isst:
Dann ging zu dem Engel und bat ihn um das kleine Buch. Er antwortete mir: „Nimm das Büchlein, und iss es auf! Es schmeckt süß wie Honig, aber du wirst Magenschmerzen davon bekommen.“ So nahm ich das kleine Buch aus seiner Hand und aß es. Es schmeckte wirklich süß wie Honig; aber dann lag es mir schwer im Magen (Offb 10,9–10).
Vor ihm hatten schon Jeremia und Hesekiel Bücher gegessen – scheinbar gute Nahrung für all jene, denen es wichtig ist, einen Text richtig zu verstehen.
Damit erregt man allemal so viel Aufsehen wie mit Kafka, doch als Bild ist es weitaus besser. Johannes, dieser endlos faszinierende frühkirchliche Apostel, Pastor und Schriftsteller, geht zu dem Engel und sagt: „Gib mir das Buch.“ Der Engel gibt es ihm: „Da hast du es. Iss es auf, iss das Buch auf.“ Johannes tut es. Er isst das Buch – er liest es nicht nur – es gelangte in seine Nervenzellen, seine Reflexe, seine Einbildungskraft. Er hatte die Heilige Schrift gegessen. Das Buch wurde Teil seiner Anbetung und seiner Gebete, seiner Vorstellungen und seines Schreibens. Das Buch, das er gegessen hatte, wurde zu dem Buch, das er verfasste, das erste große Gedicht in der christlichen Tradition und das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung.
Austin Farrer, Dozent an der Universität Oxford, sprach in einer seiner Bampton-Vorlesungen von der „unerhörten Gewohnheit des geistlichen Lesens“,10 mit der gewöhnliche Menschen schon immer an diesen Seelen-verändernden Text herangegangen waren. Unerhört deshalb, weil wir unser ganzes Leben in den Leseprozess einbringen und nicht nur die Synapsen unseres Gehirns. Unerhört deshalb, weil wir so erfindungsreich sind, wenn es darum geht, das Risiko des Glaubens an Gott zu umgehen. Unerhört deshalb, weil wir unser „spirituelles“ Halbwissen unermüdlich dazu einsetzen, uns selbst zu Gott zu machen. Unerhört deshalb, weil wir zwar gelernt haben, die Wörter auf den Seiten zu lesen und zu verstehen, doch erkennen müssen, dass wir trotzdem noch ganz am Anfang stehen. Unerhört deshalb, weil wir als ganzer Mensch gefordert sind, mit unseren Muskeln und Bändern, unseren Augen und Ohren, unserem Gehorsam und unserer Anbetung, unserer Einbildungskraft und unserem Gebet. Unsere Vorfahren stellten diese „unerhörte Gewohnheit“ (sie nannten es Lectio Divina)11 in das Zentrum des Lehrplans der Schule des Heiligen Geistes, der anspruchsvollsten aller Schulen. Jesus gründete sie, als er zu seinen Jüngern sagte: „Wenn aber der Geist der Wahrheit kommt, hilft er euch dabei, die Wahrheit vollständig zu erfassen … alles, was er euch zeigt, kommt von mir“ (Joh 16,13–15; auch 14,16; 15,26; 16,7–8). Alles, was gemäß dieses Lehrplans verfasst wurde und wird, setzt folgende Art zu lesen voraus: teilhabendes Lesen, bei dem wir die Worte aufnehmen, sodass sie Teil unseres Lebens werden, bei dem die Rhythmen und Bilder zu unseren Gebeten werden, zu gehorsamem Handeln, gelebter Liebe.
Worte, die mit dem Bild des Essens zu uns gesprochen oder geschrieben werden, Worte, die wir unbelastet zu uns nehmen, schmecken, kauen, genießen, schlucken und verdauen, haben eine andere Wirkung auf uns als Worte, die von außen auf uns einwirken, sei es in Form von Propaganda oder Information. Propaganda zwingt uns die Meinung anderer auf, manipuliert uns zu einer Handlung oder einem Glauben. Insoweit wir das zulassen, werden wir kleiner, werden wir zur Puppe eines sprechenden und schreibenden Puppenspielers. Eine Puppe hat weder eine Würde noch eine Seele. Information macht Worte zu Waren, die wir ganz nach Wunsch verwenden können. Die Worte werden ihrem moralischen Ursprung und dem Bereich der persönlichen Beziehungen entzogen und werden zu Werkzeugen oder Waffen. Eine derartige Nutzbarmachung der Sprache macht sowohl Sprecher als auch Zuhörer zu Waren.
Lesen zu können ist ein großes Geschenk, wenn die Worte einen Platz in unserer Seele finden – wenn sie gegessen werden, an ihnen genagt wird, sie geruhsam und freudig aufgenommen werden. Die Worte von lang verstorbenen oder durch Entfernung und/oder Jahre von uns getrennten Männern und Frauen erheben sich von den Seiten und kommen frisch und geradewegs in unser Leben und vermitteln Wahrheit, Schönheit und Güte; Worte, die Gottes Geist dazu verwendet, um unseren Seelen frisches Leben einzuhauchen. Unser Zugang zur Wirklichkeit vertieft sich über Jahrhunderte und Kontinente hinweg. Allerdings birgt solches Lesen auch subtile Gefahren. Leidenschaftliche Worte, die Männer oder Frauen mit großer Begeisterung gesprochen haben, sterben, sobald sie zu Papier gebracht werden, einen langsamen Tod und werden von lieblosen Augen zerlegt. Ungebändigte Worte, entstanden aus entsetzlichem Leiden, können als Museumsstück enden, gehäutet und ausgestopft, aufgehängt und beschriftet. Jedes Lesen birgt die Gefahr, dass Worte zu Propaganda verdreht oder auf Information reduziert werden und nur mehr Werkzeuge und Daten sind. Wir bringen die lebendige Stimme zum Schweigen und reduzieren Worte auf das, was angenehm und gewinnbringend ist. Ein Psalmist spottet über seine Zeitgenossen, die den lebendigen, sprechenden und hörenden Gott auf einen goldenen oder silbernen Waren-Gott reduzierten, der ihnen zu Nutzen war:
Die solche Götzen machen, sind ihnen gleich, alle, die auf sie hoffen! (Ps 115,8)
Diese Warnung gilt auch für uns heute, wenn wir täglich mit der unglaublichen Explosion der Informationstechnologien und Werbetechniken konfrontiert werden. Wir müssen diese Worte retten.
1A. Negoită, „
2Baron Friedrich von Hügel, Selected Letters, E. P. Dutton, New York 1927, S. 229.
3Rilke,