Ich möchte betonen, dass geistliches Schreiben – Schreiben aus dem Geist – auch geistliches Lesen voraussetzt. Also eine Art zu lesen, die Worte als heilig anerkennt, als Grundsubstanz, aus denen sich das verzweigte Netz der Beziehungen zwischen Gott und den Menschen spinnt, zwischen allen sichtbaren und unsichtbaren Dingen.
Es gibt nur eine Art zu lesen, die unserer Heiligen Schrift gerecht wird, einem Buch, das auf die Macht der Worte vertraut, ihnen zutraut, in unser Leben einzudringen und Wahrheit, Schönheit und Güte zu schaffen, einem Buch, das Leser braucht, wie Rainer Maria Rilke sie beschreibt: „Er bleibt nicht immer über die Blätter gebeugt, er lehnt sich oft zurück, er schließt die Augen über einer wiedergelesenen Zeile, und ihr Sinn verteilt sich in seinem Blut“.3
Diese Art zu lesen haben unsere Vorfahren als Lectio Divina bezeichnet. Heute wird sie auch „geistliches Lesen“ genannt, Lektüre, die unsere Seele füllt, wie Essen unseren Magen, die unseren Blutkreislauf durchzieht und zu Heiligkeit, Liebe und Weisheit wird.
Im Jahr 1916 hielt der junge Schweizer Pfarrer Karl Barth im Nachbardorf Leutwil, wo sein Freund Eduard Thurneysen Pfarrer war, eine Ansprache. Barth war 30 Jahre alt, seit fünf Jahren Pfarrer in Safenwil und begann gerade erst die Bibel zu entdecken. Nur wenige Kilometer entfernt stand der Rest Europas in Flammen, ausgelöst durch einen Krieg, der vor Lügen und Blutvergießen strotzte und der, wie Karl Kraus es ausdrückte, „die letzten Tage der Menschheit“ markierte, „die nicht wieder rückgängig zu machende Beendigung dessen, was in der abendländischen Zivilisation human war“.4 Jedes folgende Jahrzehnt dieses Jahrhunderts lieferte weitere Details – politische, kulturelle und geistliche Offenbarungen – dass die Welt unaufhaltsam zu dem wird, was T. S. Eliot in seinem Gedicht „Das wüste Land“ bereits vorausgesehen hatte.
Während in den Nachbarstaaten Deutschland und Frankreich das Morden und Lügen seinen Höhepunkt erreichte, entdeckte dieser junge Pfarrer in der neutralen Schweiz die Bibel, als hätte er sie nie zuvor gelesen. Er entdeckte ein absolut einzigartiges Buch, etwas, das es vorher noch nie gegeben hatte. Die Seele und der Körper Europas und schließlich der ganzen Welt standen unter Beschuss. Auf jedem Kontinent lauschten Millionen Menschen den Frontberichten und den Reden der Staatsoberhäupter. Zur gleichen Zeit schrieb Barth in seinem kleinen abgeschiedenen Dorf auf, was er entdeckt hatte: die Wahrheit stiftende, Gott bezeugende, Kultur herausfordernde Wirklichkeit in diesem Buch, der Bibel. Ein paar Jahre später veröffentlichte er seine Entdeckungen in seinem Kommentar „Der Römerbrief“. Diesem Buch folgten weitere, die in den folgenden Jahren viele Christen davon überzeugen sollten, dass die Bibel ein echteres, stimmigeres Bild von dem zeichnet, was in ihrer scheinbar einstürzenden Welt passiert, als es ihnen die Politiker und Journalisten darstellten. Zur gleichen Zeit beschloss Barth, die Fähigkeit der Christen wiederzubeleben, das Buch empfänglich zu lesen, ganz wie es seinem ursprünglichen verändernden Charakter entsprach. Barth holte die Bibel aus der akademischen Mottenkiste, in der sie für so viele so lange gelegen hatte. Er verdeutlichte, wie lebendig sie ist und wie sehr sie sich von anderen Büchern unterscheidet, die man „benutzen“ kann – zerlegen und analysieren, um sie dann für jedweden Zweck einzusetzen. Er zeigte deutlich und überzeugend, dass diese „andere“ Art des Schreibens (offenbarend und vertraut anstatt informativ und unpersönlich) auch anders gelesen werden muss (empfänglich und gemächlich anstatt reserviert und effizient). Er verwies auch immer wieder auf Autoren, die sich diesen Schreibstil angeeignet hatten, auch jetzt noch im biblischen Stil schrieben und damit uns als Leser dazu herausfordern, unser Leben zu ändern, wie beispielsweise Dostojewski. Der Russe übernahm in seinen Romanen von der Genesis die radikale Umkehr der menschlichen Urteilsgewohnheiten und gestaltete seine Charaktere gemäß des göttlichen „dennoch“ und nicht des göttlichen „deshalb“.
Barth veröffentlichte später seine Leutwiler Ansprache unter dem Titel „Die neue Welt in der Bibel.“5 In einer Zeit und Kultur, in der die Bibel von Generationen von Totengräber-Theologen einbalsamiert und begraben worden war, bestand er leidenschaftlich und unnachgiebig darauf: „Das Mädchen ist nicht tot, es schläft nur“; nahm sie bei der Hand und sagte „Steh auf“. Über die nächsten fünfzig Jahre offenbarte Barth die unglaubliche Lebenskraft und Energie, die aus den Sätzen und Geschichten der Bibel strömt und er zeigte uns, wie man sie liest.
Barth besteht darauf, dass wir dieses Buch und die von ihm geprägten nachfolgenden Schriften nicht lesen, um herauszufinden, wie wir Gott in unser Leben bekommen und um ihn dazu zu bringen, Teil unseres Lebens zu sein. Nein. Wir schlagen dieses Buch auf und stellen fest, dass es uns auf jeder Seite überrumpelt und überrascht und uns in seine Realität hineinnimmt, uns hinzieht zur Gemeinschaft mit Gott, zu seinen Bedingungen.
Er hat dies mit einem berühmten Bild verdeutlicht. Ich benutze den Kern seiner Anekdote und gestalte ihn mit meinen eigenen Details und mit der Hilfe von Walker Percy6 aus. Stellen Sie sich eine Gruppe von Männern und Frauen in einem großen Lagerhaus vor. Alle wurden in diesem Lagerhaus geboren, sind darin aufgewachsen und alles, was sie zum Leben benötigen, finden sie dort. Dieses Gebäude hat zwar keine Ausgänge, dafür aber Fenster. Doch die Fenster sind dick mit Staub überzogen, sie werden nie gereinigt und darum macht sich niemand die Mühe hinauszusehen. Wieso auch? Sie kennen nur das Lagerhaus, und dort gibt es alles, was sie brauchen. Doch eines Tages zieht ein Kind eine Trittleiter zu einem der Fenster, kratzt den Dreck weg und schaut hinaus. Es sieht Menschen auf der Straße gehen. Es ruft seine Freunde herbei. Sie drängeln sich um das Fenster – sie hatten ja keine Ahnung, dass es außerhalb dieses Lagerhauses eine ganze Welt gibt. Und dann sehen sie auf der Straße jemanden, der nach oben schaut und hinaufzeigt. Bald hat sich eine kleine Gruppe gebildet, die hinaufschaut und aufgeregt durcheinanderredet. Die Kinder schauen nach oben, doch alles, was sie sehen, ist das Dach ihres Lagerhauses. Schließlich wird es ihnen langweilig, diesen verrückten Leuten auf der Straße zuzusehen, die ständig nach oben ins Leere zeigen und darüber ganz aufgeregt werden. Weshalb sollte man ohne Grund stehen bleiben, ins Leere deuten und sich wegen nichts verrückt machen?
Die Leute auf der Straße hatten allerdings ein Flugzeug (oder Wildgänse oder einen riesigen Berg Kumuluswolken) gesehen. Die Leute auf der Straße sehen nach oben und sehen den Himmel und alles, was dort unterwegs ist. Die Lagerhaus-Menschen haben keinen Himmel über sich, nur ein Dach.
Was würde allerdings passieren, wenn plötzlich eines der Kinder eine Tür in die Wand des Lagerhauses bricht, seine Freunde dazu überredet mitzukommen und die Gruppe draußen den riesigen Himmel über ihren Köpfen entdeckt, den großartigen Horizont in der Ferne? Genau das passiert, wenn wir die Bibel öffnen, meint Barth. Wir betreten die völlig unbekannte Welt Gottes, eine Welt voller Schöpfungskraft und Erlösung, die sich über und neben uns endlos ausbreitet. Das Leben im Lagerhaus hat uns darauf nicht vorbereitet.
Die Erwachsenen im Lagerhaus spotten über die Geschichten, die die Kinder von draußen mitbringen. Schließlich haben sie die Kontrolle über das Leben im Lagerhaus, nicht über die Welt da draußen. Und sie wollen, dass es so bleibt.
Paulus war für Barth dieses