Gesammelte Kindergeschichten & Romane von Agnes Sapper. Agnes Sapper. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Agnes Sapper
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788027208784
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mußte in die Schule. Er war der kleinste unter all seinen Kameraden und im Lernen nicht stark; aber er war brav, machte seine Sache, so gut er eben konnte, und der Lehrer konnte das stille Kind wohl leiden. Eines Tages aber saß Fridolin mit geschlossenen Augen auf seinem Platz in der Schule. »Schläfst du?« rief ihn der Lehrer an und berührte ihn mit dem Stock. Erschrocken fuhr Fridolin auf, aber nach ein paar Minuten drückte er schon wieder die Augen zu. »Was ist’s heute mit dir?« rief ihm der Lehrer zu und schüttelte ihn: »Bist du faul oder krank?« »Nein,« antwortete der Kleine weinerlich, »aber die Naht ist ganz krumm, die kann ich nicht sehen!« und er deutete auf die Jacke des Knaben, der vor ihm saß. Alle Kinder lachten, aber der Lehrer sagte: »Redest du im Traum oder hast du den Verstand verloren?« »Nein, nein,« rief Fridolin, »die Naht muß so laufen,« und im Nu hatte er ein Stückchen Schneiderskreide aus seiner Tasche genommen und zeichnete damit eine schnurgerade Linie über den Rücken seines Kameraden herunter. Der Lehrer sah nun wohl, daß der Kleine recht hatte und daß die Naht etwas krumm lief. Er wußte nicht, sollte er lachen über den kleinen Sonderling oder staunen über seinen scharfen Blick. »Setze dich vor zu mir,« sagte er und führte Fridolin an einen andern Platz, wo er seine Augen offen halten konnte, ohne durch Jackennähte zerstreut zu werden. Nach der Schule sagte Fridolin zu seinem Kameraden: »Wenn du mir Zwirn mitbringst, mache ich dir die Naht an deiner Jacke zurecht.«

      Und so geschah es. Von diesem Tag an wurde Fridolin der Flickschneider für seine ganze Klasse. Als die Ferien begannen, kam der Schneider zu Fridolins Eltern und bat, daß ihm der Kleine nähen helfen möchte. Der Vater war nicht wenig stolz auf seinen kleinen Sohn und fragte, was ihm der Schneider an Lohn geben wolle, denn jeder Arbeiter sei seines Lohnes wert. Die beiden Männer handelten hin und her, Fridolin stand dabei und sagte kein Wort. Endlich wurden sie miteinander eins, der Schneider verabschiedete sich und war schon unter der Türe, da sprach Fridolin: »Geld will ich nicht, ich will Tuch!« Der Schneider kam wieder zurück und der Vater sagte: »Hättest auch früher reden können, sei nur zufrieden, jetzt ist’s schon ausgemacht.« Aber Fridolin war nicht zufrieden, er wiederholte ganz bestimmt: »Um Geld näh’ ich nicht, ich will Tuch!« »Ja, wozu denn?« fragte der Schneider. »Zu einem Anzug für unseren Kleinen,« antwortete Fridolin und meinte damit seinen jüngsten Bruder, den er sehr lieb hatte. »Er ist schon so ein Sonderling, dem man seinen Kopf lassen muß,« sagte der Schneider, versprach ihm schönes Tuch zu liefern und ging.

      Jeden Tag arbeitete nun Fridolin bei dem Meister; er lernte Maß nehmen und Zuschneiden, er sah beim Anprobieren auf den ersten Blick, wo es fehlte, und seine Fingerchen wurden immer geschickter und gingen so flink auf und ab wie eine kleine Nähmaschine, so daß es ganz wunderbar anzusehen war. Am liebsten aber arbeitete er für seine Geschwister daheim, und was er ihnen machte, das saß so nett und stand so fein, wie wenn es aus dem feinsten Herrenkleidergeschäft hervorgegangen wäre.

      Die Jahre vergingen, Fridolin kam aus der Schule und man durfte sich nicht lange besinnen, was er werden sollte, er war ja schon etwas: Der geschickteste Schneider im Städtchen. Gewachsen war er nicht viel, und wenn er jemand das Maß nehmen sollte, so mußte er auf einen Schemel, ja manchmal auf den Stuhl steigen, um hinaufreichen zu können. Er lebte ganz still nur für seine Arbeit, wußte nicht, wie es in der Welt draußen zugeht, und hatte keine anderen Freunde als seine kleinen Geschwister.

      Mit zwanzig Jahren sah er noch aus wie ein Kind. Um diese Zeit hörte der Vater, daß in der Hauptstadt ein tüchtiger Schneidermeister gestorben sei, der gute Kundschaft gehabt habe, und er dachte sich: »Das Geschäft könnte mein Fridolin übernehmen; alles, was er zum Handwerk braucht, ist dort, Gesellen und Lehrlinge sind da und wissen, wie es betrieben wird, da dürfte er sich nur hineinsetzen und könnte sein Glück machen!« Die Mutter hatte zwar ihre Bedenken und meinte, der Fridolin könne nicht ohne sie sein, er sei zu unpraktisch für so ein Geschäft. Aber der Vater sagte: »Wenn du ihn immer versorgst wie ein Kind, wird er nie ein Mann, er soll nur hinaus in die Welt, dann wird er schon klug werden.« Fridolin selbst redete nicht darein und ließ seine Eltern die Sache ausmachen.

      Nach kurzer Zeit saß er als Schneidermeister in der Großstadt. Ein ganzes Stockwerk war für ihn und seine Gesellen eingerichtet. Unten im Hause wohnten ordentliche Leute, diesen hatte die Mutter ihren Sohn anempfohlen, und so hoffte sie, es werde sich alles gut machen. Die Gesellen und Lehrbuben lachten zuerst über das Meisterlein, aber bald bekamen sie Achtung vor seiner Kunst. Der erste Kunde, der sich einfand, war ein alter Herr. Er hatte hier kurz vorher einen Anzug machen lassen und nun betrat er in diesem das Geschäft, erklärte sich nicht ganz zufrieden mit der Arbeit und wollte etwas daran verändert haben. Den kleinen Meister Fridolin sah er wohl für den jüngsten Lehrjungen an und beachtete ihn nicht, sondern wandte sich mit seinem Anliegen an den ältesten Gesellen. Der prüfte den Anzug und behauptete, er stehe tadellos und sei nach der neuesten Mode. Da sprang unser Meisterlein auf, stellte flugs einen Schemel neben den Herrn, stieg hinauf und indem er mit seiner Kreide ein paar Striche über das Tuch zog, sagte er: »Hier sitzt der Fehler.« Der Geselle mußte zugeben, daß der Meister recht habe, und am nächsten Tag war unter des Schneiderleins geschickten Händen der Fehler schon verbessert. Der alte Herr freute sich über die gute Arbeit und empfahl das Meisterlein seinem Hausgenossen, einem jungen Baron, der viel auf seine Kleider hielt. Der bestellte sofort unsern Fridolin, daß dieser ihm das Maß nehme. Aber Fridolin schüttelte bloß den Kopf, sah von seiner Arbeit nicht auf und sagte ganz ruhig zu dem Bedienten: »Der Herr soll zu mir kommen.« Die Gesellen waren nicht wenig erstaunt über diese Antwort und der älteste flüsterte dem Meister zu, der vorige Meister sei auch immer zu den Herren ins Haus gegangen. Aber Fridolin sagte ganz ruhig: »Ich kann nicht, ich muß meinen Schemel haben und meinen Stuhl, ich bin zu klein,« und der Diener des Herrn Baron mußte mit dieser Antwort abziehen. Der Herr Baron war nun neugierig, das kleine Schneiderlein zu sehen, und bemühte sich selbst in die Werkstatt. Rührig sprang unser Fridolin vom Schemel auf den Stuhl und vom Stuhl auf den Schemel, um dem großen Herrn das Maß zu nehmen, und als er damit fertig war, setzte er sich sofort wieder an die Arbeit, ließ den hohen Herrn stehen und der Geselle mußte ihn zur Türe geleiten. Der Anzug wurde aber ein Meisterwerk, und bald bemühten sich die vornehmsten jungen Herren in das Geschäft des Schneiderleins, und sie taten es um so lieber, als unser guter Fridolin sie nicht mit der Rechnung bedrängte. »Meisterlein,« sagte eines Tages der älteste Geselle, der eine wahre Liebe zu ihm gefaßt hatte, »wie steht’s mit den Rechnungen? Früher hat der Lehrbub sie ausgetragen, ich meine es wäre Zeit, die Herren sollten bezahlen.« Da machte Fridolin ein ängstliches Gesicht, denn die Rechnungen zu stellen, das hatte er nie recht lernen können. »Die Rechnungen?« sagte er, »die sind schwer zu machen.« Da lächelte der Geselle und sagte, er werde es wohl fertig bringen, und besorgte die Sache. Des Barons Diener war der erste, der kam, um die Rechnung zu bereinigen. Fridolin, der gerad am Zuschneiden war, nahm das Geld, zählte es aber nicht nach, schob es beiseite, daß es bald zwischen den verschiedenen Tuchresten lag, und merkte nicht, wie die jungen Gesellen darüber kicherten, auch wohl eines oder das andere Geldstück zu sich nahmen, nur damit es nicht unter die Lumpen fiele; und schließlich wäre wohl alles verschwunden, wenn nicht der älteste Geselle das Geld zusammengerafft und es seinem lieben Meisterlein in die Tasche geschoben hätte.

      Ein Vierteljahr war verflossen, da schnürte der wackre Geselle, dessen Zeit nun abgelaufen war, sein Bündel. Er war schon viele Jahre in der Fremde gewesen und wollte zurückkehren in seine Heimat. Der treue Bursche brachte noch, ehe er abreiste, alles Geschäftliche möglichst in Ordnung; aber er war nicht lange weg, so ging alles nicht mehr in der Werkstatt, wie es sollte. Das Schneiderlein machte zwar seine Arbeit prächtig und war von früh bis spät so emsig, daß ein Meisterstück nach dem andern aus seinen Händen hervorging. Aber die Arbeiter trieben, was sie wollten, und hatten mehr Geld als ihr Meister. Fridolins Eltern wußten davon nichts. Sie hatten sich in der ersten Zeit einmal nach ihm umgesehen und seitdem hörten sie nichts mehr, denn das Schreiben war Fridolins Sache nicht. Da wurden sie eines Tages durch einen Brief aus der Stadt überrascht. Er war nicht von Fridolin, aber von seiner Hausfrau. Die schrieb, die Eltern sollten doch nach dem Sohn sehen; es sei gar nicht zu beschreiben, was für eine Unordnung in der Werkstatt herrsche und wie er von den Gesellen betrogen und bestohlen werde. Sie habe es ihm schon oftmals selbst gesagt, aber er könne wohl nicht anders, ihr Mann sage immer, bei dem habe sich der Verstand ganz auf eine Seite geschlagen. Die Mutter seufzte: »Ich hab’s ja gleich gewußt, daß es nicht