„Retten Sie mich!“
Er schüttelte hilflos den Kopf, stumm, unfähig, das Nein auszusprechen.
Sie hob den Blick und sah ihm ins Gesicht — er mußte an die Mimi von gestern denken — an ihre Stimme — an den Ausdruck ihrer Augen.
„Ich bin verloren, wenn Sie nein sagen! Nicht nur ich: alle sind verloren.“
Die Gedanken kreisten ihm durchs Hirn in unfaßbaren Wirbeln. Er hörte den Klang ihrer Stimme, doch er begriff die Worte nicht; Melodien schienen den Raum zu erfüllen, das Nokturno von Tschaikowsky schien wie aus zweiter Ferne hereinzuschweben. Nein: es war nicht das Nokturno, deutlich erkannte er die Suite von Lully. Alles war plötzlich wie in dieser Nacht: Duft und Klang und Rausch. Es schoß ihm durch den Kopf: ist dies vielleicht der Weg ins Leben, auf den du gewartet hast alle diese Zeit? Aber, seltsam genug, im gleichen Augenblick drängte sich das Nein dazwischen, ernüchternd, klärend; die Schranken der Bürgerlichkeit waren stärker.
„Glauben Sie mir,“ flüsterte Helene keuchend — „es ist nicht Furcht, wenn ich um meine Freiheit bitte; es ist auch nicht einmal ein Gedanke an mich dabei; ich muß in Freiheit sein — Glauben Sie es mir: es handelt sich um Menschenleben… Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: alle müssen sterben, wenn ich nicht eilen kann, sie zu retten. Sie sind verloren, wenn ich nicht…“ Sie hielt mitten im Wort inne und umklammerte seinen Arm.
„Sprechen Sie von den Verschwörern?“
Sie schüttelte verächtlich den Kopf. „Ich weiß nichts von dieser Angelegenheit — ohne mein Wissen hat man mich als Botin benutzt. Es ist etwas ganz anderes.“
„Sie müssen mir alles sagen“, murmelte er.
Eine Pause entstand; er blickte an ihr vorüber; das Zimmer war erfüllt von schweren und gefahrvollen Gedanken; sie krochen aus dem Dunkel empor wie Phantome, die drohend ihre Arme nach diesen beiden Menschen ausstreckten.
„In dieser Nacht,“ sagte sie mit heiserer Stimme, „… ich weiß nicht, ob Sie sich entsinnen… in dieser Nacht wurde von der Mongolei gesprochen.“
Er nickte.
„Jemand erzählte von den Krankheitsfällen.“
„Schlafkrankheit“, sagte er bestätigend.
„Nun, mein Herr — um diese handelt es sich. Um diese Menschen.“
„Ich verstehe Sie nicht.“
Sie brach in hilfloses Weinen aus. „Ich kann Ihnen nicht mehr sagen“, schluchzte sie. „Ich würde andere, die mir nahestehen, ins Unglück bringen; glauben Sie mir doch: jedes Wort, das ich spreche, ist bittere Wahrheit.“
Er zuckte die Achseln.
Sie blickte angstvoll zur Tür, lauschend, sobald ein Schritt sich näherte; dann, ihre letzten Kräfte zusammennehmend, stammelte sie, von Furcht geschüttelt:
„Ich schwöre Ihnen: in dem Augenblick, da ich das Unglück verhütet habe — in diesem Augenblick will ich freiwillig mit Ihnen in dieses Haus zurückkehren. Mich Ihren Richtern stellen — mich den Gesetzen Ihres Landes unterwerfen…“
Boye stand regungslos — vor einer jener großen Lebensfragen, die auch den Besonnensten unschlüssig sehen. Da er noch zögerte, drängte sie sich an ihn. „Fliehen Sie mit mir!…“
Aus dem glitzernden Schwarz ihres Paillettekleides wuchs das matte Weiß ihrer Schultern. Die Berührung entflammte seine Sinne. Er glaubte die Wärme ihres Blutes zu spüren — heiß floß der singende Strom auf ihn über, trieb sein Blut zu gleichem Rhythmus, zu gleichem Rasen; er fühlte sich eins mit ihr in diesem Augenblick; erfüllt von ihren Gedanken, vom heißen Schlage ihres Herzens. Und während Wille und Wunsch in ihm kämpften, sah er die Dinge an sich vorüberrasen, alle die Dinge, die ihn schreckten und peinigten: sein trostloses Leben — eine sonnenlose Ehe — eine lebenslängliche Abhängigkeit — hier aber stand das Leben — die Schönheit — die Kunst — die große Welt — die Freiheit — die Liebe. Er fühlte sich versinken in tiefen Wassern — nichts war mehr wirklich — es gab keine Entschlüsse mehr, keine Kraft — nur Fühlen und Wünschen; alles war Traum, die Wirklichkeit war robuster Abklatsch. Er fühlte die fremde Macht, die Besitz ergriffen hatte von ihm, von seinem Leben, von seiner Zukunft, die stärker war als er, als alles andere; die alle Hemmungen zerriß.
Sie nahm seine Hand; mechanisch, fast ohne es zu wissen, öffnete er die Tür.
Die Straße lag im Dämmer des sinkenden Tages. Bläuliche Schatten waren über den Häusern. Schon blinkten die Lichter; der warme Dunst des Sommerabends hüllte die Straße in einen schmeichelnden Schleier. Die beiden gingen langsam, in betonter Sorglosigkeit, über den Damm. Niemand achtete ihrer, so schien es; aber die Gefahr wuchs von Minute zu Minute. In dem Augenblick, da Lystrup zurückkehrte, war alles entdeckt — und alles verloren.
Helene rief ein Auto an: „Zum Hotel d’Angleterre!“
Ove schüttelte den Kopf. „Sie dürfen nicht ins Hotel fahren — man wird Sie zuerst im d’Angleterre suchen; Sie und mich.“
„Ich muß ein Reisekleid holen.“
„Sie setzen alles aufs Spiel, Sie dürfen nicht ins Hotel zurückkehren.“
Sie drückte auf den Ball. „Wissen Sie ein Modehaus?“
Er nahm den Sprechschlauch. „Zum Magasin du Nord!“
Das Auto bog zur Linken ein und fuhr die Borgergade hinunter. Er zog die Brieftasche; doch sie lächelte und machte eine kleine abwehrende Handbewegung. „Ich habe Geld bei mir.“
Der Wagen hielt. Er wollte mit ihr aussteigen. Aber dann kamen sie überein, daß es besser sei, wenn sie allein hineinginge; wenn man nach ihnen fahndete, so würde alles bestimmt nach einem Paar suchen.
Sie ging hinein; in der Tür wandte sie sich noch einmal um und grüßte lächelnd zurück.
Ove blieb im Wagen; er lehnte sich seitlich in den Rücksitz, unmittelbar hinter dem Fenster; so konnte er alles beobachten, ohne daß man ihn bemerkte. Der Menschenstrom des Kongens Nytorv erfüllte den strahlenden Sommerabend. Musik lag in der Luft, Lachen schwirrte, der Seewind trug erregenden Duft in die Stadt. Aber alles dies zog an ihm vorüber wie Dinge einer fremden und fernen Welt, mit der er nichts gemein hatte: so wie die Szenen auf der Bühne am Zuschauer vorübergleiten. Dies eine hämmerte im Takt seines Blutes durch seine Gedanken: er hatte sich außerhalb der Gemeinschaft der Menschen gestellt. Er hatte sich zu denen gesellt, die auf der anderen Seite standen: jenseits der großen Linie, die den Bürger scheidet vom Gehetzten. Aber während er dies dachte, stieg ein warmes und tröstliches Gefühl in ihm auf. War es nicht der köstlichste Tausch, den ein Mensch sich wünschen konnte? Er hatte mit der Vergangenheit gebrochen, gewiß; aber es war eine Vergangenheit von grauer Monotonie, die er aufgegeben hatte, und was vor ihm lag, war die weite, lachende, sonnige Welt. Er hatte Ebba verloren — aber hatte er nicht von Tag zu Tag deutlicher gespürt, daß sein Verlöbnis der Katastrophe zutrieb? Daß das Ende, das gewaltsame, schmerzvolle Ende unvermeidbar war? Die Frau, die an Ebbas Stelle getreten war — war sie nicht ein herrlicher, beneidenswerter Gewinn?
Unablässig gingen die Türen des großen Kaufhauses. Viele Menschen strömten hinein, viele kamen heraus; Helene war nicht unter ihnen.
Eine leise Unruhe überkam ihn. Aber er wußte, daß es die Nerven