Er beugte sich vor und lugte durchs Fenster. Helene kam nicht.
Sie hatte ihm versprochen: dorthin zurückzukehren — woher sie mit ihm gekommen war. Das war keine Redensart gewesen — Helene war nicht von dieser Art, so weit kannte er sie schon. Nun wohl, er würde sie beim Wort nehmen. Sie hatte von einer geheimnisvollen Mission gesprochen — eines Tages also würde er mit ihr in diese Stadt zurückkehren, würde vor die Richter treten und alles erklären. War nicht eine Helene Wassiliew einer solchen Tat wert? Einer solchen Sühne?
Er riß nervös das Wagenfenster herunter.
Von Helene war nichts zu sehen.
Von plötzlicher Unruhe erfaßt, öffnete er den Schlag des Wagens und ging hastig ins Haus hinein. Er wußte, daß seine Besorgnisse sinnlos waren; aber seine Nerven verlangten gebieterisch nach Beruhigung. Er mußte sich vergewissern.
Dort war das Atelier. Ein paar Mannequins führten Pariser Moden vor. Er fragte nach Helene; die Direktrice lächelte und zuckte die Achseln. Er beschrieb sie.
„Ja, mein Herr“, gab eine Verkäuferin Auskunft. „Diese Dame habe ich selbst bedient.‘
„Wo ist sie?“
„Sie fragte nach dem zweiten Ausgang. Dann bat sie mich, ein Auto zu bestellen. Ich selbst habe sie hinuntergeleitet.“
„Sie ist also abgefahren?“
„Gewiß, mein Herr. Schon vor zehn Minuten.“
Mit taumelnden Schritten ging er zur Treppe. Er streifte unsanft ein paar Frauen, die eben den Fahrstuhl verließen; geistesabwesend murmelte er sinnlose Worte der Entschuldigung. Wankend, mit den ziellosen Schritten eines Berauschten ging er die Treppe hinunter. Es war ihm nicht möglich, den Sinn der Dinge zu begreifen; nur dies eine fühlte er: daß in diesem Moment alles zusammenbrach. Die Dinge um ihn herum, der Tag, die Stadt, alles war sinnlos, von einer irren Belanglosigkeit, die über allem lag wie eine unbegreifliche Drohung, der nichts entrinnen konnte. Irgendwo aus den oberen Räumen kam Musik. Er emfand sie wie eine freche Verhöhnung, die ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Wie unerträglich die Luft in diesem Hause war! In den schrägen Sonnenstrahlen tanzte der aufgewirbelte Staub; er erfüllte alles. Ja, alles war Staub von Aufgang bis Niedergang. Das bißchen Leben, das dazwischen lag, zählte nicht. Ein Windstoß, in einen Schutthaufen gefahren, ließ ihn aufwirbeln in ein paar lächerlichen Zuckungen; aber wenn der Abend kam, wenn die Stürme schlafen gingen, war alles vorbei, und Staub war wieder Staub geworden.
Jemand riß eine Tür auf. Er tat einen tiefen Atemzug und trat, sich gewaltsam zusammenraffend, in den funkelnden Sommerabend hinaus, der erfüllt war von Menschen, von Duft und von Lachen.
Ein paar Schritte tappte er vorwärts. Doch er fühlte: seine Nerven ließen ihn so völlig im Stich, daß es zu einer Katastrophe kommen mußte. Längst mußte sein Verbrechen offenbar geworden sein; es war sicher, daß man ihn bereits verfolgte. Jemand blickte ihn an. Er zuckte zusammen; aber es war nur ein flüchtiger Bekannter, der ihn vorwundert grüßte und sich nach ihm umsah. War das wirklich nur Verwunderung über sein Benehmen? Oder wußte man schon? Hier auf dem „Strög“ pflegte Richter Lystrup allabendlich um diese Zeit zu promenieren. Wenn er ihm begegnete, war er verloren. Er bog, fast mit einem Ruck, seitwärts ein: in die Ny Adelgade.
Hier war es ruhiger. Er konnte seinen Gedanken nachhängen. Aber das war schmerzlicher noch als jene Furcht vor dem Ungewissen.
Er hatte sich wie ein blinder Narr von einer Abenteurerin dupieren lassen. Als gute Menschenkennerin hatte sie — das gehörte wohl zu ihrem Metier — erkannt, wes Geistes Kind er war: seine Sehnsucht hatte sie erkannt und seine Schwächen und klug, mit eisiger Klugheit, auf sie spekuliert. Was galt es ihr, daß sie das Leben eines Menschen vernichtet hatte?
Zwei Herren kamen ihm entgegen, die er zu kennen glaubte. Er bog fast instinktiv über den Fahrdamm. So völlig hatter er sich schon seiner neuen Lage angepaßt — wie schnell man umlernte!—Jeder Rückweg war abgeschnitten, darüber war kein Zweifel. Nun war er ein Objekt der Justizmaschine geworden — eine Nummer in der Liste der Steckbriefe. Und das Leben ging weiter seinen Gang, als ob nichts geschehen wäre — lachend schritt es über ihn hinweg. So haardünn war die Grenze zwischen Oben und Unten, zwischen Ehrenmann und Verbrecher: man übersprang sie in einem Moment, da man nicht wußte, was man tat — in einem kleinen Augenblick des Rausches — und auf einmal, ohne jeden Übergang, gewahrte man: daß es kein Zurück mehr gab.
So irrte er durch die Straßen, durch Gegenden, die er kaum kannte. Ob sie wohl schon auf sein Nachhausekommen warteten? Überflüssige Frage! Seltsam: wie von dieser anderen Seite, auf der er jetzt stand, alle Dinge so völlig anders aussahen! Eine sichere, behagliche Existenz hatter er in frevelhaftem Übermut von sich geworfen. Einen Beruf, der Scharfsinn und Tüchtigkeit erforderte. Ein Leben an der Seite einer jungen schönen Frau, in Reichtum und Luxus, war ihm wie eine unerträgliche Fessel erschienen. Konnte er nicht Ebba, sobald sie dem Einfluß ihres Vaters entzogen war, aus puritanischer Erziehung langsam zur Lebensfreude führen? Und Gamberg? Eines Tages würde er sich zur Ruhe setzen — das bedeutete für den Schwiegersohn volle Freiheit des Handelns, Herrschaft über ein großes Vermögen! Zitternde Kälte stieg in ihm empor, erfüllte ihn langsam wie das Gefühl einer übermächtigen Scham, die alles andere verdrängte.
Die Reue, diese stumme, würgende, tränenlose Reue wuchs. Während er mit bebenden Gliedern, zerschlagen, übermüdet dem Morgen entgegenwanderte, überkam ihn allmählich grenzenlose Gleichgültigkeit. Er mußte begreifen, was er getan hatte, er hatte eine Nacht lang Zeit dazu gehabt. Nun hörte die Selbsttäuschung auf. Alle Dinge wurden mit ihrem Maß gemessen; er mußte einstehen für das, was er verbrochen hatte. Zu Hause wartete man auf ihn, das war sicher. Er wollte heimgehen, sich den Häschern zu ergeben.
Schüchterne Morgensonne lag über der Straße. Alles war wie sonst: die Jalousien waren geschlossen, schnurgerade, im ganzen Hause, hinter allen Fenstern. So war das Haus zur Rechten, so war das Haus zur Linken. Die Fassade blinkte von Sauberkeit. Man sah: in diesen festgefügten Häusern wohnte behagliches Bürgertum, das sich seiner Arbeit und seiner Muße freute, bewußt seines Wertes, von einer freundlichen, ein wenig kühlen Kultur.
Halt: schimmerte nicht ein Licht zwischen den Stäben? Ja: dieses ungewohnte Licht bedeutete die große Veränderung. Dies brennende Licht, das sich strahlend und unbarmherzig in die Morgendämmerung bohrte — dieses Licht blickte nach ihm aus. Wartete auf ihn.
Er gab sich einen Ruck und ging ins Haus.
Frau Mortensen kam ihm entgegen, aufgeregt, mit verweinten Augen. „Gott sei Dank!“ seufzte sie, als sie ihn ansah.
„Nun, Frau Mortensen?“
Sie lachte. Gerührt erkannte er, daß es ein fast glückliches Lachen war.
„Wo sind sie?“ stieß er hervor.
Sie sah ihn verständnislos an.
Er blickte verwirrt um sich. Dort war das Licht: in seinem Zimmer. „Wann sind sie gekommen?“
Besorgt sah ihm die Alte ins Gesicht. „Sie sind krank, Herr Doktor, ganz sicher; ich werde an Doktor Stroem telefonieren.“
Er schüttelte den Kopf, ihre Verständnislosigkeit machte ihn noch ratloser. „War denn niemand hier?“
„Wer soll denn hiergewesen sein? Mitten in der Nacht?“
Er legte die Hand aufs Herz, das flackernd gegen die Brust hämmerte.
„Ich werde Ihnen Kaffee bringen“, sagte Frau Mortensen. „Vor allem müssen Sie jetzt ruhen.“
„Ist denn wirklich niemand hiergewesen? Hat nicht jemand telefoniert?“
„Nichts, nichts, nichts!“
Damit ging sie hinüber in die Küche.