„Ja. Es ist möglich.“
Fremde Stimmen mischten sich ein, lachend und protestierend; man umringte Helene, augenscheinlich um sie einem Gespräch zu entziehen, das niemanden interessierte.
Wieder setzte leise Musik ein — ein Nokturno von Tschaikowsky. Seltsam, alles in Helenes Bannkreis war Geist von seinem Geist — sie dachte mit seinen Gedanken — aus gleichen Tiefen kamen ihre Empfindungen…
Türen schlugen, das Anschwellen der Gespräche verriet, ohne daß er ein Wort verstand, feierliches Abschiednehmen. Er starrte in das Dunkel hinein — immer deutlicher spürte er den zärtlichen Rausch, der ihn erfüllte.
Und dann kam wieder jener leichte Schritt, das Parkett knarrte, und eine Stimme, die er kannte, sagte:
„Gute Nacht, einsamer Träumer!“
Verwirrt sprang er auf; Helene reichte ihm die Hand. Er sah im halben Licht, das schräg auf sie fiel, daß sie bleich war.
„Gute Nacht“, erwiderte er leise. „Seien Sie nicht böse — ich habe mich zurückgezogen, es war eine Unhöflichkeit. Aber ich konnte von hier die Lieder hören — Ihre Lieblingslieder, die man gespielt hat — und ich konnte meinen Gedanken nachhängen, während dort drinnen von gleichgültigen Dingen gesprochen wurde.“
Sie sah ihn an. „Und womit beschäftigten sich diese Gedanken?“
„Wenn ich es Ihnen sagen würde, so würden Sie darin eine… eine neue… ich finde das Wort nicht… Sie sind müde, Fräulein Wassiliew. Ich bitte um Verzeihung.“
Sie sah sich unruhig um. Auf seinen fragenden Blick schüttelte sie den Kopf. „Es ist jemand da, der mich zu sprechen wünscht. Einer der Gäste — ich hatte ihn kaum bemerkt.“ Damit reichte sie ihm die Hand, die er küßte; sie entzog sie ihm hastig. „Sie müssen gehen.“
Er trat auf den Korridor hinaus; in der Tür begegnete ihm der Kommissar, der mit kurzem Gruß an ihm vorüber ins Zimmer ging.
Betroffen sah Ove sich um. Was bedeutete das? Der Gruß des Beamten war knapp und kühl gewesen; er kannte diese Art: das war ein amtlicher Gruß.
Der Boy kam ihm entgegen, schon mit Hut und Mantel wartend. Während er Ove beim Ankleiden behilflich war, blickte der Boy in ängstlicher Gespanntheit auf die Tür, durch die der Kommissar gegangen war.
Ove trat auf den weiten Platz hinaus, der sich müde und verschlafen vor ihm dehnte. Die Fröhlichkeit war verstummt; das lachende Gewimmel war zurückgeebbt in die dunklen Straßen, über denen nun der Schlaf der tiefen Nacht lag. Schon meldete sich bleiche Helle am Himmel, der Widerschein der Mitternachtssonne, der nächtens bis über das sommerliche Seeland leuchtet.
Ove ging quer über den Kongens Nytorv. Ein Signal gellte; vor dem Hotel hielt ein geschlossenes Auto. Ove wandte sich um; zwei Herren stiegen aus, die er zu kennen glaubte: zwei vierschrötige Gestalten. Sie gaben dem Chauffeur eine Weisung und gingen ins Hotel hinein, mit kurzen militärischen Schritten.
Die Front des Hauses lag in tiefem Dunkel; nur aus den Fenstern eines Zimmers des ersten Stocks drang Lichtschein. Irgend etwas lag in der Atmosphäre, das ihn beunruhigte. Was wollten diese beiden Männer — er wußte jetzt, wer sie waren — was wollte der Kommissar? Auf wen bezogen sich seine Worte: ‚Es gibt heute abend noch eine Überraschung‘? Er war zurückgekehrt, als alle Gäste fort waren — was bedeutet das alles?
Fast mußte er über sich selbst lächeln: das waren seine überreizten Nerven, nichts anderes. Er war übermüdet, durchschüttelt von überraschenden und überwältigenden Dingen — Liebe, Furcht — Verzweiflung und Hoffnung — und nun, mit dem Gutenachtgruß, war die Reaktion gekommen. Morgen früh, im Lichte des grauen Werktags, sahen die Dinge aus, wie sie immer aussahen: nüchtern, primitiv, ohne Komplikationen.
Er versenkte die Hände in die Manteltaschen und setzte den Weg fort, der Bredgade zu. Ein Klang kam aus dem Dunkel der Nacht; er blieb erschreckt stehen.
Während er sich umwandte, wußte er, daß dieser Klang eine Täuschung seiner Sinne gewesen war. Gleichwohl fühlte er die Realität, die hinter diesem Warnruf stand: seine Nerven hatten reagiert auf einen Vorgang, der jenseits der Wahrnehmung lag.
Aus dem Hotel trat Helene Wassiliew; rechts und links von ihr gingen die beiden Männer von vorhin; ihr auf den Fersen folgte der Kommissar. Die Vier stiegen ins Auto. Ove schüttelte mit einer nervösen Bewegung die lähmende Bestürzung ab und stürmte über den Platz. Aber schon setzte sich das Auto in Bewegung; Boye hastete keuchend ins Hotelvestibül, wo der Nachtportier aufgeregt mit ein paar Bediensteten sprach. „Fräulein Wassiliew?“ wiederholte der Portier und deutete mit schrägem Blick durch die Glastüren in den dämmernden Morgen hinaus. „Fräulein Wassiliew ist soeben verhaftet worden.“
Boye stellte eine betroffene Frage.
„Wir wissen es nicht, mein Herr. Wir wissen es nicht.“
Oves eiskalte Finger krampften sich zitternd um das Messing der Drehtür. Er taumelte; fast zog die Schwere seiner Glieder ihn zu Boden.
Der große Platz war menschenleer; drüben verschwand eben das rote Licht des Wagens im dämmrigen Grau der Straße.
II
Die Kollegen standen plaudernd vor den Türen, als Ove Jens Boye über den Korridor ging.
Die Unfreundlichkeit eines mürrischen Wochenbeginns lag in der Luft, die erfüllt war von staubiger Wärme. Durch die hohen Fenster zeichnete sich bleigrauer Himmel, unterbrochen von den schweren Konturen der Häuser, die den Blick begrenzten; drüben, jenseits des Hofes, starrten vier Etagenreihen vergitterter Fenster in den Morgen.
Ein paar Kollegen riefen Boye heran; sie erzählten Liebesabenteuer — die neuesten Witze aus dem Tivoli — Seglergeschichten vom Sund. Sie waren von gleichmütiger Frische, rosig und bedenkenlos. Dann kam Richter Lystrup vorbei; er winkte Boye vergnügt mit der Hand; man wußte nicht recht: war das Kollegialität oder verhohlener Spott.
Ove blieb ostentativ bei den Plaudernden stehen, obwohl es neun Uhr war.
Er kam mit einer kleinen Verspätung aufs Amtszimmer. Lystrup saß mit hochrotem Kopf über einem Aktenstück; als Boye eintrat, nickte er ihm eifrig zu.
„Es gibt eine interessante Vernehmung, Herr Assessor. Einen Fall… können Sie ermessen, was das bedeutet? Einen wirklichen und wahrhaftigen internationalen Fall!! Raten Sie einmal, wer in einer Minute hier vor uns stehen wird!“
Ove fühlte das würgende Klopfen seines Herzens. Er wußte nur zu gut — aber er vermochte nicht ein Wort herauszubringen.
Lystrop drückte den Knopf. Dann zog er den Taschenspiegel und glättete die Krawatte in der hohlen Hand.
„Helene Wassiliew“ sagte er; er sprach das Wort, als ob er einen Leckerbissen auf der Zunge zergehen ließe. „Helene Wassiliew… in einer Sache… in einer Sache, sage ich Ihnen… Hören Sie, Assessor: Sie müssen mir sekundieren. wir müssen einmal zeigen, was wir können. Ich ermächtige Sie, jede Frage zu stellen, die Ihnen einfällt. Verstehen Sie? Jede Frage, die Sie für förderlich halten. Für förderlich im Sinne der Untersuchung… Wenn es gelingt, sie zu überführen, Boye, wenn es uns gelingt, etwas Gravierendes aus ihr herauszubringen: dann bin ich in einem halben Jahr bei der Regierung. Und Sie amtieren hier an meiner Stelle.“
Auf der Treppe, die vom Hof heraufführte, hörte man Schritte, die näher kamen; Ove fühlte, wie der Schlag seines Herzens zu einem irren Rasen wurde.
„Und was…“ — er erschrak über seine eigene Stimme — „… und was… liegt gegen sie vor?“
Lystrup machte ein Gesicht, aus dem man tausend Dinge herauslesen konnte. „Soviel ich in der Geschwindigkeit aus den Akten ersehen kann, ist sie eine… eine…“
Es klopfte.
Auf Lystrups Herein ging die Türe auf; zwei Beamte meldeten: „Helene Wassiliew!“