Die ferne Frau. Paul Rosenhayn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Rosenhayn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711592649
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war noch in Abendtoilette; offenbar hatte man ihr nicht die Zeit gelassen, sich umzukleiden. Völlig abwesend blickte sie durch die Dinge hindurch; sie gewahrte Boye nicht. Ja, es schien, als ob sie den Sinn ihres Aufenthalts in diesem Raum kaum begriffe.

      „Wünschen Sie einen Dolmetscher?“

      Sie schüttelte den Kopf.

      „Bitte nehmen Sie Platz.“

      Helene blieb unbeweglich stehen, den Blick durch das Grau der Wand hindurch in unendliche Fernen gerichtet.

      Lystrup schlug das Aktenstück auf; beim Rascheln des Papiers zuckte sie zusammen. Ove kannte diesen Trick Lystrups: die Nerven des zu Vernehmenden langsam und systematisch zu irritieren.

      „Sie hatten gestern in Ihrer Garderobe im großen Zwischenakt Besuch?“

      Helene antwortete nicht.

      Lystrup wiederholte, ein wenig schärfer im Ton:

      „Den Besuch eines Herrn.“

      Er fixierte sie drohend. Von seinem Blick angezogen wandte sie ihm das Gesicht zu. Erstaunt sagte sie:

      „Nun ja.“

      Lystrup lächelte. „Dieser Herr hat Ihnen ein Bild gebracht. Stimmt das, Fräulein Wassiliew?“

      „Gewiß.“

      „Dieses Bild stellt Sie, Fräulein Wassiliew, dar. In Ihrer Rolle als Königin der Nacht — im Sternenmantel. Geben Sie dies zu?“

      Indem sie verständnislos den Kopf schüttelte sagte sie:

      „Warum sollte ich es nicht zugeben?“

      In Lystrups Gesicht trat ein Ausdruck, den Boye nur zu gut kannte.

      „Wollen Sie die Güte haben, uns zu sagen, wer der Herr war, der Ihnen das Bild gegeben hat?“

      Helene, betroffen von Lystrups Ton, erwiderte leise:

      „Ich habe den Herrn nie in meinem Leben gesehen. Soviel ich weiß, war es ein Maler, der nach einer kleinen Photographie von mir dies Bild gemalt und es mir zum Geschenk gemacht hat.“

      Der Richter erhob sich. „Warum sagen Sie die Unwahrheit?“ rief er in lautem Ton, mit einer Stimme, in der aufrichtige Entrüstung zitterte; diesen Tonfall hielt Lystrup für solche Zwecke parat, in denen es galt, das Opfer zu überrumpeln.

      Helene, weniger erschrocken als erstaunt, sagte mit abweisendem Gesicht:

      „Ich wüßte keinen Grund, die Unwahrheit zu sagen. Der Herr hat sich mir unter einem Namen vorgestellt, den ich nicht verstanden habe.“

      „Wirklich nicht?“ höhnte Lystrup; Boye stieg das Blut in die Wangen. Erst jetzt erkannte er, daß Helene jede Phase dieses Kampfes wie einen körperlichen Schmerz empfinden mochte; er sah es an dem Zucken ihrer Hände.

      „Der Herr, der Ihnen dieses Bild gebracht hat, war der Chef der bolschewistischen Propaganda in Skandinavien.“

      Helene blickte betroffen auf; sie sah stumm auf den Richter, der sie höhnisch betrachtete — und ihre Augen wanderten hilflos weiter. Sie blieb auf Ove haften — und ein jähes Erkennen trat in ihren Blick. Ihre Pupillen weiteten sich; er sah das Zittern, das durch ihren Körper lief.

      Sie sah ihm unverwandt in die Augen; hilflos, ein Tier, das sich in einer heimtückischen Falle gefangen hat.

      „Was haben Sie dazu zu sagen?“ herrschte Lystrup sie an.

      Sie schrak zusammen. Aber sie vermochte nicht zu antworten.

      „Wissen Sie, was dieses Bild enthielt?“

      „Nein.“

      „Sie nützen Ihrer Sache schlecht“, sagte Lystrup scharf, „wenn Sie beharrlich Unwahrheiten antworten. Aber wie Sie wollen. Hinter diesem Bilde — zwischen Leinwand und Holz, steckte ein Brief. Werden Sie wenigstens gestehen, daß Sie seinen Inhalt kennen?“

      „Ich kann Ihnen nichts gestehen, Denn ich weiß nichts von einem Brief.“

      „Kennen Sie die Gräfin Bunin in Paris?“

      „Ja“, antwortete Helene mit offenkundigem Erstaunen.

      „Diese Gräfin Bunin bewohnt ein Haus am Boulevard des Capucines?“

      „Es mag sein.“

      „Sie sagten eben, daß Sie sie kennen.“

      „Ich habe mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Eine mir nahestehende Person kennt die Gräfin Bunin; ich selbst habe sie nie gesehen.“

      „Der Brief, den man bei Ihnen — in jenem Bilde — gefunden hat, ist an diese Gräfin Bunin richtet. Es ist kein Zweifel, daß Sie die Mission hatten, ihn ihr zu übergeben.“

      „Selbst wenn es so wäre, so könnte ich darin nichts Strafbares sehen.“

      „Nichts Strafbares“, wiederholte Lystrup, ganz Hohn — „Nichts Strafbares, sagten Sie? Sie sind nach Kopenhagen gekommen, unter dem Vorwande eines Gastspiels, um einen Brief in Empfang zu nehmen und an seine Adresse zu befördern — einen Brief, der nicht mehr und nicht weniger enthält als den Invasionsplan einer bolschewistischen Armee. Und Sie haben die Dreistigkeit, mir zu erklären, Sie könnten darin nichts Strafbares erblicken?“

      Helene machte eine ungeduldige Bewegung.

      „Ich habe Ihnen bereits erklärt, daß ich von diesem Brief nichts weiß.“

      „Hm“ machte Lystrup und lehnte sich behaglich zurück. Er ließ seine Augen mit einem zärtlichabschätzenden Blick über ihre Gestalt gleiten — so, als ob er ein seltenes und kostbares Tier im Käfig betrachte. Dann sagte er in einem fast liebevollen Ton:

      „Mein liebes Fräulein Wassiliew, ich hatte Sie, wie ich Ihnen ehrlich bekennen will, höher eingeschätzt: es ist die typische Taktik aller Schuldigen, nur das zuzugeben, was man ihnen nachweist, und alles zu leugnen, was nicht beweisbar ist. Wenn ich noch Zweifel an Ihrer Schuld gehabt haben sollte, so sind Sie selbst im Begriff, diese letzten Zweifel zu zerstören. Ich glaube, Sie begehen den grundsätzlichen Irrtum, mich für Ihren Feind zu halten. Ich bin aber nicht Ihr Feind, Fräulein Wassiliew — ich will Ihnen sogar bekennen, daß ich zu Ihren Gunsten voreingenommen bin. Ich habe Sie gestern Abend im Theater gehört, ich habe eine Probe Ihrer großen Kunst empfangen, ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß derartige Imponderabilien oftmals einen Kontakt schaffen, der enger sein kann als persönliche Bekanntschaft. Ich muß Ihnen weiter sagen, daß es mir leid tut, gerade Ihnen als Richter gegenüberzustehen — ich hatte Ihnen und mir etwas Besseres gewünscht.“

      Ove saß mit geballten Fäusten hinter seinem Protokoll; bei den Worten des Richters mußte er an eine Szene denken, die er einmal im Walde von Klampenborg beobachtet hatte: eine Spinne, eine große entsetzliche Kreuzspinne kroch mit behaglicher Langsamkeit auf eine kleine, muntere, farbenfrohe Libelle zu, die sich in ihrem Netz gefangen hatte. Bei jeder Bewegung, die die Spinne auf sie zu machte, zappelte die Libelle entsetzt mit ihrem ganzen Körper; aber jedes Zappeln verstrickte sie fester in die raffiniert gelegten Fäden. Er wußte, daß jedes Wort des Richters Lüge war, daß Lystrup nur einen einzigen Wunsch hatte, Helene zu überführen, um Karriere zu machen. Das war nicht mehr die Taktik eines Richters, nicht die Strategie eines Wahrheitssuchers; das war Inquisition — sadistisches Raffinement. Er wandte sich zu Lystrup herum; der beachtete ihn nicht.

      „Sehen Sie, Fräulein Wassiliew: es gibt eine innere Wahrscheinlichkeit der Dinge. Das werden auch Sie als Laiin verstehen. Der Besucher wußte zweifellos, als er Ihnen das Bild gab, daß Sie es in die Hände der Gräfin Bunin weitergeben würden. Oder vielmehr: die Botschaft, die es enthielt. Die Gräfin Bunin ist uns bekannt als eine gefährliche politische Agentin: sie ist die Leiterin der Pariser bolschewistischen Zentrale für ganz Europa. Und Sie, Fräulein Wassiliew, sind ihre Komplizin!“

      „Das ist nicht wahr!“ schrie Helene auf.

      „Doch. Es ist wahr. Sie hätten — wenn unsere