Helene schöpfte ein paarmal tief Atem; dann sagte sie leise, mit geschlossenen Augen:
„Ich hatte keine Ordre, das Bild an die Gräfin Bunin weiterzugeben. Nicht einmal ihre Adresse ist mir bekannt, ich sagte es Ihnen schon. Lediglich ihren Namen kenne ich.“
Lystrup nickte. „Aus Ihren Worten höre ich heraus: Sie hatten den Brief zwar nicht an die Gräfin Bunin, wohl aber an eine andere zwischen Ihnen und der Gräfin Bunin stehende Person abzugeben. Ist es so?“
Helene zuckte die Achseln.
„Es freut mich, daß Sie nicht mit Nein antworten. Sie geben damit wenigstens das eine zu: daß Ihnen die Existenz des Briefes bekannt war. Damit wären wir immerhin einen kleinen Schritt weitergekommen, Fräulein Wassiliew.“
Helene machte eine verzweifelte Bewegung; wieder glitt ihr Blick zu Boye hinüber, der mit trostlosen Augen vor sich niedersah.
„Würden Sie jetzt noch die Güte haben, uns zu sagen, wer die Person ist, der Sie den Brief zu übergeben hatten?“
„Nein!“ sagte Helene kurz und scharf.
„Wirklich nicht?“ Lystrup verzog den Mund zu einer Grimasse. „Nun, es ist nicht so besonders wichtig; wir kennen den Adressaten ohnehin.“
Ove sah, daß Helene wankte. Er wollte sich erheben, um ihr beizustehen; aber schon stützte sie sich mit zitternden Händen auf die Barriere. Die beiden Männer hefteten ihre Augen schweigend, in atemloser Erwartung, auf die vor ihnen Stehende, die in sich zusammenzusinken schien. Sie beugte sich kraftlos über die Barriere. Ihr blasses Gesicht zuckte und ihr flackernder Blick irrte hinüber in die Augen des Richters, der sie unverwandt betrachtete.
„Mein Herr,“ stammelte sie keuchend — „ich bin in eine Situation geraten, die mich völlig verwirrt. Jeder Schritt, den ich tue, jedes Wort, das ich spreche, bringt mir neues Unheil — ich wage nicht mehr zu sprechen, ich wage kaum zu atmen — die Luft dieses entsetzlichen Hauses ist erfüllt von feindseligen und furchtbaren Dingen. Ich bitte, glauben Sie mir: ich bin völlig unschuldig — man hat mir eine Falle gestellt… man hat mich nach einem bestimmten Plan ins Verderben gelockt.“
Lystrup räusperte sich. „Wer sollte daran ein Interesse haben, Fräulein Wassiliew? Wer könnte Sie ins Verderben locken wollen? Und zu welchem Zweck?“
Sie zuckte trostlos die Achseln. „Ich weiß es nicht. Ich habe keinen Feind. Ich begreife das alles nicht — aber eine andere Erklärung gibt es nicht. Alles muß sich aufklären. Ich flehe Sie an, mein Herr: lassen Sie mich frei… lassen Sie mich frei, Herr Richter!“ Während sie Lystrup ins Gesicht sah, erkannte sie das lächelnde Glimmen in seinen Augen, das ein Nein bedeutete. „Ich bin bereit, eine Kaution zu stellen, ich bin wohlhabend; ich bin bereit, mich zu verpflichten, zurückzukehren, wenn Sie mich rufen; zum Prozeß, zum Termin, zur Verhandlung — ich weiß nicht, wie Sie diese Dinge nennen — aber jetzt, in dieser Stunde noch, muß ich frei sein. Es ist nicht meinetwegen — es gilt, Tausende von Menschen zu retten: vor dem sicheren Tode. Lassen Sie mich frei, mein Herr! Oder Tausende von Menschen müssen sterben!“
In Lystrups Züge trat jener Ausdruck, auf den Boye mit bebender Angst gewartet hatte: das Lächeln des Jägers, der sein Wild in der Falle sieht. „Das ist ja sehr interessant“, sagte er mit seiner zärtlichen Stimme, die erfüllt war von Hohn und Triumph. „Das ist ja außerordentlich interessant, meine Gnädigste. Sie gestehen also, daß weit mehr hinter Ihnen steckt, als wir vermutet hatten. Weit mehr und weit Gefährlicheres.“ Und dann, mit blitzschnellem Instinkt auf einmal seine Taktik wechselnd, richtete er sich auf und lächelte. Ein gütiges, offenes, freundliches Lächeln, das ihm — auch das wußte Boye aus Erfahrung — beliebig zu Gebote stand. „Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Fräulein Wassiliew. Sie sehen, ich habe bisher keine Zeile von Ihrer… Verneh… von unserer Unterhaltung protokollieren lassen. Mir liegt daran, Ihnen zu beweisen, daß ich nicht Ihr Feind bin; ja, ich möchte Sie endgültig überzeugen, daß ich selbst den Wunsch habe, Sie in Freiheit zu setzen. Betrachten Sie das, was wir jetzt sprechen, als privat.“ Er drehte den Kopf herum zu Boye, als ob er gleichzeitig an die Diskretion des Mithörers appelliere. „Sagen Sie mir —“ er dämpfte seine Stimme zu einem vertraulichen Flüstern — „sagen Sie mir, wer die Menschen sind, von denen Sie sprechen: diese Tausende, die sterben müssen, wenn Sie nicht in Freiheit kommen — sagen Sie mir, um was es sich handelt. Streng privat, ich wiederhole es. Ich werde dann alles tun, was in Ihrem Interesse liegt — wenn ich es erreichen kann, will ich dafür plädieren, daß Sie auf der Stelle in Freiheit gesetzt werden.“
Ove schob den Stuhl zurück, daß er krachend gegen die Wand prallte, und sprang auf. Kreidebleichen Gesichts herrschte er Lystrup an: „Herr Richter…“
„Was wünschen Sie?“ donnerte Lystrup.
„Das ist… das ist kein Verhör mehr… das ist Inquisition!“
Helene machte eine fast beschwichtigende Handbewegung. Der Richter, rot vor Zorn, war gleichfalls aufgesprungen.
„Es scheint mir angebrachter, wenn ich Sie an Ihre Pflichten erinnere, Herr Assessor! Im übrigen sprechen wir uns noch!“
Er schien mühsam nach Luft zu schnappen; dann ging er zur Tür, riß sie auf und sagte mit harter Stimme:
„Die Vernehmung ist beendet.“
Die beiden Männer blieben allein; der Richter zog nervös das Etui. Er nahm eine Zigarette, zündete sie an und trat schweigend ans Fenster.
Plötzlich wandte er sich um.
„Herr Assessor Boye — ich denke zu hoch von Ihnen, um Ihnen dieses kleine Intermezzo ernstlich nachzutragen. Unser Beruf erfordert Nerven, Herr Assessor; er verlangt eine Härte von uns, die wir uns selbst erst, contre coeur, anerziehen müssen. Das weiß niemand so genau wie ich; glauben Sie es mir. Meinen Sie, ich hätte nicht darunter gelitten wie Sie? Sie sind noch in jenem Stadium, da man Vertrauen zu den Menschen hat; in Ihrem Alter bildet man sich ein, die menschliche Gesellschaft sei auf Liebe und Freundschaft gegründet. In zehn Jahren werden Sie begriffen haben, Herr Assessor, daß dies ein fundamentaler Irrtum war. Feindschaft und Haß sind die Wurzeln aller Lebensgemeinschaft. Der Landgerichtspräsident erwartet mich zu einem Bericht über die Sache Wassiliew; Sie erledigen wohl die paar Bagatellsachen. Auf Wiedersehen!“
Er winkte Boye mit der Hand und ging aus dem Zimmer.
In dem kleinen Restaurant, in dem Ove mit Kollegen das Mittagessen einnahm, sprach man von nichts anderem als von der Sache Wassiliew. Ove ließ die andern reden; zu seinem Erstaunen erkannte er, daß alle ohne Ausnahme gegen die verdächtige Ausländerin eingenommen waren. Nieman sprach von ihrer Kunst, niemand von ihrer Schönheit; jeder sah nur den Kriminalfall, nur das Wild, das man hetzen müsse; daß es eine Frau war, erhöhte wohl im geheimen noch den Reiz dieser Jagd, bei der alle Chancen auf seiten des Jägers waren. Deutlicher als je spürte Ove den Haß gegen die Kollegenschaft — und die Kluft, die ihn von jenen trennte; nie hatte er den Abscheu vor seinem Beruf so unerträglich schwer empfunden wie heute. Dann ging er in die kleine Konditorei, in der er sich, ohne daß eine eigentliche Verabredung bestand, mit Ebba zu treffen pflegte. Sie brachte heute eine Freundin mit: die junge Dame aus der Lausanner Pension, mit der sie sich gestern im Theater begrüßt hatte. Ebba scherzte mit der Freundin, sprach von tausend Dingen, die ihn nicht betrafen, von denen er nichts wußte; deutlich fühlte er die wachsende Entfremdung. Er erzählte von der Sache Wassiliew; Ebba wußte schon davon; auch hier hörte er die Freude darüber, daß man eine gefährliche Verbrecherin zur Strecke gebracht hatte.
Gegen Abend wurde Helene Wassiliew zur zweiten Vernehmung hereingeführt. Lystrup hatte seine Taktik geändert; er versuchte Helene einzuschüchtern. Sie starrte mit verzweifelten Augen ins Leere und antwortete auf keine seiner Fragen.
Plötzlich klingelte das Telephon. Lystrup nahm den Hörer ab und führte ein kurzes Gespräch; dann erhob er sich. „Sie müssen die Vernehmung weiterführen, Herr Kollege“, wandte er sich