Ihre Stimme, ihre Erscheinung trugen ihn zurück in jene Zeiten, da er selbst mit dem Gedanken spielte, ein Künstler zu werden. Er fühlte: die Frau dort unten war Geist von seinem Geist, Blut von seinem Blut. Sie war erfüllt von jenem zärtlichen Mitschwingen mit den Seelen der andern, das die seltsame und leidvolle Gabe des Künstlers ist. Sie kam aus einer Welt, mit der ihn tausend Fäden verbanden. Für die man in seinen Kreisen kein Verständnis hatte, nur das lächelnde Achselzucken des Bürgers. Den Menschen rings um ihn bedeutete Kunst die Abenderholung des fleißigen Verdieners, abhängig von ihm, bezahlt von ihm, angewiesen auf sein Wohlwollen. Wer kam hier wohl auf den Gedanken, ein Künstler zu werden? Doch nur einer, der zu ernster Arbeit nicht taugte. So dachten alle. So dachte Gamberg. So dachte auch Ebba. Gelegentlich hatte er Verse rezitiert: von Grundtvig, von Jens Baggesen; man hatte nachsichtig gelächelt und ein wenig applaudiert; als er sich dann, mutig gemacht, an den Flügel setzte, um eine Suite von Jean Baptiste Lully zu spielen, da hatte sein Schwiegervater beziehungsvoll gelächelt. Um ihm beim Mokka zu erklären, daß er an einem jungen Mann vor allem Zielbewußtsein im Beruf schätze und daß er gegen Dinge, die abseits führten von dem glatten Wege der Karriere, ein ehrliches Mißtrauen empfinde.
Ove fühlte mit jenem sechsten Sinn, daß in diesem Augenblick etwas Merkwürdiges vorging. Er zuckte fast zusammen, in einem Zwange, über den er sich selbst keine Rechenschaft geben konnte:
Helene Wassiliew blickte zu ihm herüber.
Sie wandte ihre Augen von ihm ab in dem gleichen Moment, da er ihren Blick erwiderte; aber ein seltsam befangener Ausdruck trat in ihr Gesicht, und abermals glitten ihre Augen, fast wie gegen ihren eigenen Willen, zu ihm in die Loge.
Er sah schuldbewußt auf Ebba; deutlich erkannte er, daß ihre Züge noch abweisender wurden; er glaubte ein Flimmern in ihren Augen zu sehen.
Plötzlich erhob sich Ebba. „Ich möchte gehen“, sagte sie leise. „Ich habe unerträgliche Kopfschmerzen.“
Die beiden Herren standen auf. Gamberg flüsterte etwas, was Boye nicht verstand.
Leise öffnete Ove die Logentür; das helle Licht des Korridors schoß in den Theaterraum; man blickte zu ihnen hinüber. Ove sah gedankenvoll auf die Bühne; aber die Sängerin schien die kleine Störung nicht zu bemerken.
Während die drei die Treppe hinuntergingen, fragte Ove leise:
„Was ist dir, Ebba?“
Sie schüttelte wie zur Antwort den Kopf.
Irgend etwas war in ihrem Gang, das in seltsamem Widerspruch stand zu der Kühle ihres Wesens. Ihr Gesicht war abweisend — ihr Gang war zärtlich. Sie war fast so groß wie er.
Der Portier gab ein Signal.
„Es ist schade“, sagte Gamberg, während das Auto anzog. Und als ob er sich auf einer Unfreundlichkeit ertappe, setzte er hinzu: „Ich meine, ich hätte dir den Schluß der ‚Bohème‘ gern gegönnt.“
Das Auto fuhr über den lichterfunkelnden Kongens Nytorv; der breite Menschenstrom zwang es zu langsamer Fahrt. Über Kopenhagen lag helle nordische Nacht, erfüllt von Seewind und von ferner und kühler Frische. Unablässig erneute sich der Strom der Promenierenden: von der Skydebane über den Rathausplatz durch die schmale Nygade — über den Amagertorv bis zum Hotel d’Angleterre.
Der Wagen bog hinüber in die Store Kongensgade und raste, in der Richtung des Oeresund, der Langelinie zu. Von Sekunde zu Sekunde schien das Feindselige in der Atmosphäre sich zu verstärken; was drinnen, in der heißen Luft des Theaters, wie eine fiebrige Übertreibung gewesen war, wurde nun, in der Kühle der Nacht, zu fühlbarer Absichtlichkeit.
Die Straßen wurden dunkler. Sanft glitt das Auto in das Grün des Boulevards ein; der Wagen hielt.
„Hansen kann Sie zurückfahren“, meinte Gamberg.
Aber Ove schüttelte dankend den Kopf. „Ich möchte zu Fuß gehen.“
Im Hause wurde es hell. Ove ging hinüber in den Schatten der Ankersgade.
Bantam… immer noch klang ihm der Name im Ohr. Bob Bantam… „Bantam war unser Tischgast“, hatte Gamberg gesagt. „Vor einigen Wochen ist er bei uns gewesen.“ Und Ebba hatte dazu gelächelt.
Wie hell diese Sommernacht war! Zärtliche Pärchen strichen an ihm vorüber, untergefaßt, mit träumerischen Augen; von der Langelinie her ebbte der Strom der Verliebten zur Stadt zurück. Sie brachten den Duft des Meeres mit, das frohe und tiefe Einssein mit der Natur, jene Durchdrungenheit, die nur der empfindet, der am Meere lebt.
Und er? Ove Jens Boye? Gehörte ihm nicht die Schönste von allen? Machten sich nicht die Leute heimlich auf ihn aufmerksam: das ist der Schwiegersohn des reichen Gamberg! Der künftige Gatte Ebba Gambergs, des schönsten Mädchens von Kopenhagen!!
Du lieber Gott! Wie anders die Dinge wurden, wenn man ihnen auf den Grund ging! Gewiß, er begriff bis heute nicht recht, daß Gamberg Ja gesagt hatte. Aber hatte ihm der Gedanke an Ebba, an seine Braut, eine einzige glückliche Stunde gebracht? Er war skeptisch geworden in der Nüchternheit seines Berufs; deutlich hatte er hinter dem Lächeln der Menschen die Frage gespürt: wie er, der kleine Assessor, zu diesem unerhörten Glück komme. Sein Äußeres? Nun — groß, blond, schlank und blauäugig waren genug andere auch. Seine künstlerischen Neigungen? Seine Liebe zur Musik? Zu den Dichtern? Seine tiefe Liebe zu allen Dingen, die die Härte des Alltags vergessen ließen? Die hinübertrugen in eine bessere, leichtere, freundlichere Welt?
Fast mußte er lachen. Gerade diese Seite seines Wesens, die seine beste, seine echteste, seine tiefste war — gerade die traf auf ein Nichtverstehen, das fast feindselig war. Im Laufe dieser Woche hatte er es mehr und mehr begriffen: daß nichts innerlich Gemeinsames war zwischen ihm und jenen. Ebba lächelte, wenn er von jenen Dingen sprach, die ihm Zweck und Sinn des Lebens schienen. Im Hause Gamberg galten als Postulate eines vorschriftsmäßigen Lebenslaufs: Fleiß — Rechtschaffenheit — Religiosität.
In scharfer Kurve bog die Straße nach Westen ab; die nächtliche Store Kongensgade lag endlos vor ihm — fern drüben flimmerten die Lichter der Stadt.
Das war das Unerträgliche an Gambergs Argumenten: daß sie unangreifbar waren und unwiderleglich. Daß man fleißig sein mußte, war selbstverständlich. Das Gebot der Rechtschaffenheit bedurfte keiner Diskussion. Und selbst die Religiosität, über die sich allenfalls streiten ließ, war letzthin nichts als eine besondere Form eines Moralgesetzes, das jeder anerkennen mußte, der Verständnis für die Gegenseitigkeit aller menschlichen Beziehungen hatte. Aber unerträglich war, daß man diese Grundsätze, diese Primitivität der Lebensauffassung, als Ziel und Zweck alles Lebenskampfes hinstellte. Statt sie an den Anfang der Dinge zu setzen. In dieser betonten Bescheidung, das fühlte er, lag Heuchelei.
Dort kreuzte pompös und schweigend die Fredericiagade seine Straße. Auf den drei goldenen Kuppeln der Alexander-Newsky-Kirche, die byzantinisch-düster in die helle Kopenhagener Nacht wuchtete, schimmerte silbriges Mondlicht. Dahinter … dahinter lag das Gerichtsgebäude — die Stätte der Fron, die ihn sieben Stunden jeden Tag gefangen hielt.
Gefangen hielt — das war es. Die Gitter der Fenster, die schnurgerade aufgereiht waren jenseits des Hofes — diese Gitter waren Symbol und Abbild seines eigenen Eingekerkertseins. Seine Zukunft, seine Kräfte, ja, seine Gedanken waren einem Leben verschrieben, das er nicht begriff. Dessen Notwendigkeit er ablehnte. Das er haßte. Die Interessen der Kollegen, die Freuden einer bürgerlichen Karriere — alles war philiströs, kleinbürgerlich und platt. Und selbst der Abschied von diesem Hause bedeutete nur den Einzug in ein neues Gefängnis. Das darum nicht weniger drückend war, weil seine Traillen vergoldet waren: die Ehe mit Ebba, das Aufgehen in die Ideen Gambergs — die Kapitulation auf Lebenszeit.
Ein offenes Auto bog aus der Fredericiagade in die Straße ein.
„Ove!“