»Ich gebe Ihnen jetzt etwas gegen die Atemnot. Bleiben Sie ruhig und versuchen Sie, gleichmäßig zu atmen.« Sophie wusste nicht, ob sie ihrer Patientin oder sich selbst Mut zusprach, während sie erneut eine Nadel unter der Haut versenkte.
Sie wartete noch darauf, dass sich Caroline Steuber beruhigte, als Matthias ins Zimmer stürmte.
»Habe ich mein Stethoskop hier verges …?« Mitten im Satz hielt er inne. Er starrte die leichenblasse Patientin auf der Liege an. »Was ist denn hier los?«
Sophie schluckte.
»Frau Steuber hat offenbar eine Allergie gegen die Lokalanästhesie.«
Matthias Weigand stemmet die Hände in die Hüften.
»Ihnen wurde im Studium doch sicher beigebracht, dass Allergien vor einer Behandlung abgefragt werden.« Er stand hinter der Assistenzärztin. So konnte er nicht sehen, wie sie hinter einem Rücken die Augen verdrehte.
»Ja! Ich dachte, das hätte Frau Lekutat schon gemacht. Sonst hätte sie doch etwas gesagt.«
»Einen Fehler machen und dann noch die Schuld auf andere schieben. Das sieht Ihnen ähnlich!« Am liebsten hätte Dr. Weigand sie gepackt und geschüttelt. Sophie hatte nur Glück, dass er in Eile war. »Sie bleiben bei der Patientin, bis es ihr besser geht. Haben wir uns verstanden?«
»Ja.« Es kam selten vor, dass Sophie Petzold sich schämte. Diesmal war es so weit, und sie atmete auf, als Matthias Weigand endlich den Raum verlassen hatte.
*
Dési Norden stand auf dem Hotelbalkon und sah hinüber auf den See. Eine Trauerweide ließ ihre Äste ins Wasser hängen. Schnatternd watschelte eine Entenfamilie über den Rasen. Ein Boot dümpelte auf dem stillen See vor sich hin. Vor dem Hotel führte ein gekiester Weg vorbei an üppig blühenden Beeten. Über der ganzen Insel lag ein Frieden, der selbst Dési nicht unberührt ließ.
»Ist das schön hier«, seufzte sie und konnte sich kaum losreißen von dem fast kitschigen Anblick. »Gut, dass Dad nicht weiß, was er verpasst.«
Fee hatte ihre Reisetasche ausgepackt und trat neben ihre Tochter.
»Wenn es klappt, will er morgen Abend zum Essen kommen. Und bis dahin machen wir uns eine schöne Zeit.« Sie legte den Arm um ihre Tochter und drückte sie an sich. Désis Anwesenheit tröstete sie über die größte Wehmut hinweg. Die Aussicht auf eine schöne Massage erledigte den Rest. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir unseren Termin nicht verpassen wollen.«
Mit einem letzten Blick auf den See folgte Dési ihrer Mutter ins Zimmer, um sich für den Ausflug in den Wellnessbereich fertig zu machen.
»O nein, das kann doch nicht sein!« Ein paar Minuten später durchwühlte sie den Inhalt ihres Koffers, den sie im Gegensatz zu ihrer Mutter noch nicht ausgepackt hatte.
»Was ist denn?«, hallte Fees Stimme aus dem Bad.
»Ich habe meinen Bikini vergessen. Jetzt kann ich nicht ins Schwimmbad.« Désis Stimme bebte vor Enttäuschung.
»Wenn mir das passiert wäre, würde ich es ja verstehen«, bemerkte Fee und trat aus dem Badezimmer. »Aber du bist jung.«
»In solchen Momenten habe ich eine Ahnung, wie es sich anfühlen muss, alt zu sein«, seufzte Dési unglücklich. »Was soll ich denn jetzt machen?«
»Ganz einfach.« Tröstend legte Felicitas ihren Arm um die Schultern ihrer jüngsten Tochter. »Im Prospekt habe ich gesehen, dass es im Keller, gleich vor dem Wellnessbereich, eine Boutique gibt. Du bist offenbar nicht die Einzige alte Schachtel, der so etwas passiert«, scherzte sie und brachte ihre Tochter damit zum Lachen.
»Habe ich dir schon einmal gesagt, dass du die beste Mum der Welt bist?«, fragte Dési und fiel Fee um den Hals.
»Ungefähr einundertdreiundzwanzig Mal. Aber ich höre es immer wieder gern. Und jetzt komm! Wenn du genauso wählerisch wie vergesslich bist, kommen wir noch zu spät zu unserer Massage.«
Gut gelaunt machten sich die beiden auf den Weg. Felicitas hatte sich nicht geirrt. Die Boutique war zwar klein, aber gut sortiert, und die Preise waren zu ihrer Überraschung erschwinglich. Ein paar Kunden stöberten in dem Angebot, aus unsichtbaren Lautsprechern kam leise Musik.
»Kann ich Ihnen helfen?« Ein Herr in Fees Alter trat auf sie zu und musterte sie interessiert. Offenbar gefiel ihm, was er sah, denn das Lächeln auf seinem sympathischen Gesicht wurde breiter.
Sie erwiderte es.
»Meine Tochter hat ihren Bikini vergessen, und wir brauchen Ersatz.«
»Oh, Sie haben Glück. Erst gestern ist eine neue Lieferung gekommen.« Er deutete hinüber zu einem Ständer in der Ecke. »Da ist bestimmt etwas dabei. Brauchen Sie auch etwas, oder darf ich Ihnen inzwischen einen Kaffee anbieten?«
Felicitas überlegte nicht lange.
»Gern.« Sie ließ sich zu einer kleinen Sitzgruppe führen, während sich Dési umsah und bald fündig wurde.
»Was hältst du von dem hier?« Sie hielt den Bügel ein Stück von sich und musterte den raffiniert geschnittenen Badeanzug in einem schönen Violett.
»Der gefällt mir gut.«
Adrian Wiesenstein war derselben Ansicht.
»Der passt gut zu deinen Augen. Probier ihn doch an!«
Das ließ sich Dési nicht zwei Mal sagen. Sie sah sich um und entdeckte die Umkleiden in einer Ecke des Raums.
»Ich bin gleich wieder da!«, versprach sie und bahnte sich einen Weg vorbei an Kleiderständern und Regalen. Die Tür einer der beiden Umkleiden war geschlossen, die andere angelehnt.
Dési drückte sie auf und starrte auf den nackten Oberkörper eines offenbar jungen Mannes. Sein Kopf steckte in einem T-Shirt.
»Oh, tut mir leid. Ich dachte, hier wäre frei«, entschuldigte sie sich schnell und wollte die Tür wieder schließen, als es ihm gelang, das Shirt über den Kopf zu ziehen. Zwei warme, braune Augen lachten sie fröhlich an.
»Mir tut es überhaupt nicht leid.« Seinem aufmerksamen Blick entging nichts. »Im Übrigen stelle ich mich gern als Modeberater zur Verfügung.«
Dési funkelte ihn an.
»Du willst mich doch nur im Badeanzug sehen.«
»Cinderella hat uns gezeigt, dass ein einziger Schuh ein ganzes Leben verändern kann. Warum sollte das mit einem Badeanzug nicht möglich sein?«
Nun musste Dési doch lachen.
»Weil wir nicht in einem Märchen leben.«
Mit einer melodramatischen Geste presste der junge Mann die Hände aufs Herz.
»Du bist so grausam realistisch! Musst du mir das antun?«
Allmählich schmolz ihr Widerstand dahin.
»Leider ja. Ich habe nämlich in zehn Minuten einen Massagetermin, den ich nicht verpassen will.« Der Wink mit dem Zaunpfahl wirkte.
»Verrätst du mir wenigstens deinen Namen, holde Maid?« Er verließ die Umkleide, um für Dési Platz zu machen.
»Ich bin Desirée. Und du?«, fragte sie, bevor sie die Tür der Umkleide schloss.
»Joshua!« Er machte eine Verbeugung. »Und ich werde den Rest meines Urlaubs damit verbringen, im Schwimmbad auf dich zu warten.«
Während sich Dési umzog, dachte sie kurz nach. Es war schon eine Weile her, dass Oli mit seiner Familie in seine Heimatstadt zurückgekehrt war. Der Trennungsschmerz war nicht mehr als eine blasse Erinnerung.