»Das stimmt. Aber offenbar vergisst du, dass ich in meiner Physiotherapie-Praxis auch mit behinderten Menschen arbeite.« Sie funkelte ihre Schwester ärgerlich an. »Du kannst mir glauben: Wenn sich alle so anstellten wie du, hätte ich längst den Beruf gewechselt.«
Jutta schnappte nach Luft.
»Erlaube mal. Wie redest du denn mit mir?«
»So, wie ich es schon längst hätte tun sollen. Glaubst du, mit deinem ewigen Selbstmitleid machst du irgendetwas besser?« Viel zu lange hatte Judica ihre Gedanken und Gefühle vor ihrer Schwester versteckt. Nun brachen sie sich mit aller Gewalt und viel heftiger als beabsichtigt Bahn. »Seit dem Schlaganfall kreist du nur noch um dich und deine Behinderung. Statt dein Schicksal anzunehmen und das Beste daraus zu machen, sitzt du im Rollstuhl, lamentierst und machst in erster Linie deinem Mann das Leben schwer. Kein Wunder, dass Bastian lieber allein unterwegs ist.« Judica hatte leise gesprochen. Trotzdem ging ihr Atem schwer.
Mit offenem Mund saß Jutta da und starrte ihre Schwester an.
»Ich weiß ja nicht, was hier gespielt wird. Aber es klingt ganz danach, als hättet ihr euch hinter meinem Rücken gegen mich verbündet.« Wieder erinnerte sie sich an den hässlichen Streit, den sie mit Bastian an diesem Vormittag gehabt hatte. »Ist heute der Tag der Abrechnung?«
»Wie bitte?« Judica verstand kein Wort. Sie beugte sich vor und nahm ihre Schwester ins Visier. »Denkst du wirklich, dass wir das nötig hätten? Warum willst du nicht sehen, dass du mit deinem Verhalten alles kaputt machst? Warum sind immer die anderen schuld? Warum kannst du nicht wenigstens versuchen, wieder am Leben teilzuhaben?«
»Weil ich ein gottverdammter Krüppel bin. Deshalb!«, schleuderte Jutta ihr entgegen.
Judica war der Appetit vergangen. Sie schob den Teller mit der halb gegessenen Torte von sich und lehnte sich zurück.
»Wenn du so weitermachst, verlierst du deinen Mann. Dann wird Bastian dich verlassen. Und ich kann es ihm noch nicht einmal verdenken.«
Wütend warf Jutta den Kopf in den Nacken.
»Na und? Auf so eine Familie, die nur auf mir herumhackt, kann ich gut und gern verzichten. Geht doch hin, wo der Pfeffer wächst! Lasst mich nur alle im Stich.« In ihrer Stimme lag so viel Verachtung, dass Judica nicht anders konnte.
Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und verließ den Tisch. Am Tresen blieb sie stehen, um zu bezahlen.
Obwohl der Streit im Flüsterton ausgetragen worden war, hatte Tatjana Bohde alles verstanden. Grund dafür war ihr scharfes Hörvermögen. Nach einem Unfall war die Freundin von Dr. Danny Norden erblindet. Obwohl sie inzwischen durch eine Operation einen Teil ihres Sehvermögens zurückbekommen hatte, verließ sie sich gern auf ihre anderen Sinne und ihre fast magische Sensibilität, Folge eines Lebens in Dunkelheit.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich, während sie kassierte.
Judica seufzte.
»Nein. Aber ich kann nicht mehr. Bitte machen Sie sich keine Sorgen. Meine Schwester kommt sehr gut allein klar. Sie will es nur nicht.«
Tatjana nickte, sagte aber nichts. Jeder Mensch ging anders mit dem Gepäck um, das ihm das Leben aufbürdete. Der eine kämpfte sich aus eigener Kraft wieder hoch. Der andere brauchte deutliche Worte und eine Herausforderung, um zur Besinnung zu kommen.
Während sich die beiden Frauen am Tresen unterhielten, klingelte Juttas Telefon. Sie kramte es aus der Tasche und nahm das Gespräch an. Ihr erstickter Schrei ließ Judica aufhorchen. Sie schickte Tatjana einen ratlosen Blick, ehe sie zu ihrer Schwester an den Tisch zurückkehrte.
*
»Elena, ich brauche einen Belegungsplan. Ist er endlich fertig?«, fragte Daniel Norden, als er, ein paar Patientenakten in der Hand, zu Schwester Elena ins Schwesternzimmer eilte. »Statt ständig auf deine Prüfung zur Pflegedienstleitung zu lernen, könntest du dich bitte mal darum kümmern.«
»Lernen? Machst du Witze?« Sie hob den Kopf und schickte ihm einen ungläubigen Blick. »Vor lauter Arbeit weiß ich selbst kaum noch, wo mir der Kopf steht. Die Bücher habe ich seit Tagen nicht mehr aufgeschlagen. Dabei habe ich nicht mehr viel Zeit.«
»Ich brauche trotzdem einen Plan«, beharrte Daniel.
»Soll ich jeden von euch Ärzten durch drei teilen? Wie soll ich denn bei diesem Personalmangel einen ordentlichen Belegungsplan machen?« Ein Patientenruf ging ein, und sie stand auf. »Wenn du mir das verraten kannst, bis du mein persönlicher Held des Tages.«
»Es gibt ja bald neue Kollegen. Zuerst kommt ein neuer Chirurg, und dann sehen wir weiter.«
Elena schickte eine Lernschwester zu dem Patienten, ehe sie sich wieder Dr. Norden zuwandte.
»Ergänzung oder Ersatz?«, fragte sie spöttisch. »Wenn wir so viel Arbeit haben, laufen wir Gefahr, dass die Kollegen abspringen.«
»Mal bitte nicht den Teufel an die Wand«, bat Daniel. »Wir können uns keine weiteren Ausfälle erlauben.« Er sah seine Freundin flehend an. »Dieter Fuchs hat sich schon für einen Kandidaten entschieden. Sein Kronprinz ist ein ziemlich attraktiver Mann.«
Elena schüttelte lächelnd den Kopf.
»Du vergisst, dass ich eine glücklich verheiratete Frau bin. Mal abgesehen davon, dass mir niemals ein Arzt ins Haus käme.« Sie zwinkerte Daniel zu. »Aber Frau Lekutat wird sich bestimmt freuen. Wenn ich nicht irre, ist sie auf Brautschau.«
Nur mit Mühe konnte sich Daniel Norden ein Lachen verkneifen. Christine Lekutat war zwar eine gute Chirurgin, bestach aber nicht gerade durch ihre charmante Art. Ganz im Gegenteil benahm sie sich oft wie ein Elefant im Porzellanladen und machte sich mit dieser Art nicht viele Freunde.
»Seit wann bist du so gehässig?«, fragte er, als eine Schwester auftauchte und ihn in die Notaufnahme rief.
Er verabschiedete sich von Elena und lief los. In der Ambulanz begegnete er Matthias Weigand.
»Schön, dass es auch noch Kollegen gibt, die ohne Sondereinladung zur Arbeit kommen«, schimpfte er vor sich hin. »Hier ist volles Programm. Du hast die Wahl. Kümmerst du dich lieber um Schnittwunden oder eine Prellung?«
»Ich kann leider nicht lange bleiben. Der OP wartet sehnsüchtig auf mich.« Daniel Norden sah sich suchend um. »Wo steckt denn Frau Petzold? Kann sie dich hier nicht unterstützen?«
»Die Frau Kollegin hat sich herabgelassen, zwei Verbände anzulegen, und ist dann wieder verschwunden. Wahrscheinlich war die Arbeit mal wieder unter ihrem Niveau«, schimpfte Matthias, ehe er um die Ecke verschwand.
Daniel sah ihm noch nach, als er fühlte, wie er am Ärmel gezupft wurde.
»Ah, der Chef höchstpersönlich gibt sich die Ehre.« Christine Lekutat hatte ihn entdeckt und belegte ihn sofort mit Beschlag. »Als Leithammel sollten Sie Ihre Herde besser im Griff haben.«
»Vielen Dank für die Blumen!« Daniel schnitt eine Grimasse. »Ich werde bei nächster Gelegenheit darüber nachdenken.«
»Zum Glück findet auch ein blindes Huhn mal ein Korn«, gab Dr. Lekutat ihm wohlmeinend mit auf den Weg, ehe sie eines der Behandlungszimmer betrat.
Glücklicherweise wusste Dr. Norden inzwischen, dass Einfühlungsvermögen nicht gerade die Stärke der Chirurgin war. Sonst hätte er sie sich trotz des Personalmangels einmal zur Brust genommen. So aber verzichtete er darauf. Statt sich mit sinnlosen Dingen herumzuschlagen, beschäftigte er sich lieber mit der Versorgung seiner Patienten.
*
Matthias Weigand irrte sich nicht. Die Fälle in der Notaufnahme waren in Sophie Petzolds Augen lediglich Bagatellen. So hatte sie sich dazu entschlossen, ihre Jugendliebe Bastian höchstpersönlich in sein Zimmer zu bringen.
»Mit Blick auf den Garten. Du bist wirklich ein Glückskind«, erklärte sie und platzierte das Bett am Fenster. »Wie fühlst