Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse. Sabine Zinkernagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Zinkernagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567027
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C-R-A-S-H. Ausgesprochen wird das Ganze dann eben »Crash«.

      Und klingt somit eher wie: An die Wand gefahren. Totalschaden. Schwerverletzte.

      Mein Bruder hatte einmal einen schweren Verkehrsunfall. Mit Frontalzusammenstoß, Totalschaden und fünf Schwerverletzten. Er hat seinen Crash überlebt. Aber er musste monatelang üben, bis er neu laufen gelernt hatte. Sich hinknien, um Sockelleisten abzustauben, wird er nie wieder können. Aber wenn er mit seinem Sohn Fußball spielt, merkt man ihm nichts mehr an. Und mein Bruder spielt wesentlich lieber Fußball, als Sockelleisten abzustauben.

      Ich werde meinen Großbuchstaben-Crash auch überleben. Aber auch bei mir wird es wohl einige Zeit dauern, bis ich wieder auf die Beine komme. Manches in meinem Leben wird nie wieder so sein, wie es war, und wie es bei 95 Prozent aller Familien in Deutschland ist. Ich werde üben müssen, werde kämpfen müssen, werde Neues lernen müssen. Aber es besteht die Hoffnung, dass man meinem Leben irgendwann nicht mehr als Erstes die »chronisch kranke Frau mit zwei behinderten Kindern« anmerken wird.

      Mein Bruder hat es geschafft, sein Leben nach dem Unfall wieder gut zu meistern. Tausende von Eltern, deren Kind behindert zur Welt gekommen ist, haben das geschafft. Millionen Menschen, deren Lebensplanung einen Totalschaden erlitten hat, haben das geschafft.

      Also kann ich das auch schaffen. Meinen Kindern zuliebe. Und mir selbst zuliebe. Vielleicht vor allem das.

      Psychiater

       Oktober 1997

      Ich bin am Ende. Zumindest fühle ich mich so. Wenn ich vor dem Fenster einen Dreijährigen mit selbst abgerissenen Blumen für Mama in der Hand herumhüpfen sehe, während mein Dreijähriger übt, sich an einem Stuhl zum Stehen hochzuziehen, gehört die nächste halbe Stunde einem Weinkrampf. Am liebsten würde ich mich den ganzen Tag unter der Bettdecke verkriechen. Oder auf die Straße rennen und allen Leuten ins Gesicht schreien, wie schrecklich diese Welt mit mir umgeht. Beides würde an meiner Situation nicht das Geringste ändern.

      Martin hat eine bessere Idee: Er sucht die Adresse eines christlichen Psychiaters und vereinbart gleich einen Termin für mich.

      So tief bin ich also gesunken. Der Psychiater wird mich auf seine Couch legen, sich alles anhören und mich dann mit Psychopharmaka vollpumpen, bis ich nicht mehr geradeaus denken kann. Danach bleibt als nächster Schritt nur noch die geschlossene Psychiatrie.

      Ich gehe trotzdem hin. Vor allem, weil Martin immer noch darauf besteht. Dr. D. arbeitet bewusst auf christlicher Basis. Wir reden aber kaum über Gott. Er kann ja auch dabei sein, wenn man nicht über ihn redet. Dr. D. hat keine Couch, sondern einen verstellbaren Ruhesessel, in dem man sich wunderbar fallen lassen kann. Und einen herrlichen Kaffee.

      Dr. D. hört sich alles an. Geduldig, verständnisvoll. Klar, das ist sein Beruf. Er versteht, dass alles Sich-Zusammenreißen-Wollen nicht funktioniert. Diagnostiziert eine exogene Depression. Das heißt, ich bin nicht von mir aus depressiv, sondern meine Lebensumstände haben mich dazu gemacht. Schön, das habe ich mir schon vorher gedacht. Aber was macht man dagegen?

      Dr. D. verschreibt mir keine Tabletten, sondern erst einmal eine Putzhilfe. Die wird zwar nicht von der Krankenkasse übernommen, aber es hilft. Besonders, wenn ich den Auftrag des Psychiaters beherzige und die gewonnene Zeit dafür nutze, mit Jacob zu toben, mit Cornelius zu kuscheln oder mich einfach in die Sonne zu setzen.

      Das mache ich auch für eine kurze Zeit. Es klappt nicht immer, aber immer öfter. Dann spiele ich doch wieder mit dem Gedanken, anderweitig aktiv zu werden. Eine Krabbelgruppe für unser Dorf gründen, das wäre doch etwas für mich. Es wäre zwar wieder mit Arbeit verbunden, aber mit einer, die mir wesentlich mehr Spaß macht als der Hausputz. Und die mich vielleicht herausholen könnte aus dem ständigen Kreisen um die Ungerechtigkeit des Schicksals. Ich wäre nicht mehr nur die MS-kranke Mutter von zwei behinderten Kindern, sondern wieder die Pfarrfrau, die ich eigentlich werden wollte. Die Gruppenleiterin, Ansprechpartnerin für die Mütter. Expertin in Sachen »normgerechte Entwicklung«, »sensorische Integration« und »psychomotorische Frühförderung«. Damit bin ich schon wieder nicht normal. Aber ich kann mir selbst beweisen, dass ich noch in der Lage bin, aus meinen negativen Lebensumständen positives Kapital zu schlagen.

      Dr. D. ist gar nicht darüber entsetzt, dass ich seinen Auftrag nicht so ganz erfüllen möchte. Im Gegenteil, er erklärt mir den Unterschied zwischen Dys-Stress und Eu-Stress und ermutigt mich, die Sache anzupacken. Für ganz heftige Momente verschreibt er mir sogar ein Beruhigungsmittel. Aber erst jetzt. Jetzt zeigt Dr. D. mir ein paar Entspannungsübungen und übt mit mir, gewisse Gedanken mit einem Stoppschild im Kopf auszubremsen. So ausgerüstet, kann ich es hoffentlich schaffen, in der Krabbelgruppe ganz normale Kleinkinder zu erleben, ohne gleich in Tränen auszubrechen.

      Inzwischen habe ich eine Frau aus unserem Dorf zu Dr. D. geschickt. Sie dreht sich seit über einem Jahr nur noch um die Frage, warum ihr Mann so schnell an einem Hirntumor gestorben ist. Aber bei ihr beißt der Arzt auf Granit. Stoppschilder im Kopf fallen schon nach ein paar Stunden wieder um. Eu-Stress-Aufgaben findet sie nicht. Selbst Psychopharmaka bleiben wirkungslos.

      Ich glaube, Dr. D. hätte gerne mehr solche Patienten wie mich. Ich bin also doch noch ganz die alte Sabine: Die Musterschülerin. Früher für den Französischlehrer, heute für den Psychiater. Immerhin.

      Das Ei des Jacobus

       Januar 1998

      Kennen Sie die schöne Erzählung vom Ei des Kolumbus? Ich war schon als Kind fasziniert davon, wie der wackere Seemann das scheinbar Unmögliche vollbrachte, indem er kurz die üblichen Denkmuster verließ. Als seine Gegner ihm vorhielten, auch jeder andere hätte Amerika entdecken können, forderte er sie auf, ein rohes Ei senkrecht auf den Tisch zu stellen. Nach allen Regeln der Physik ist das unmöglich, und natürlich gelang keinem der Anwesenden das Kunststück. Bis schließlich Christoph Kolumbus das Ei nahm, es mit dosiertem Schwung auf die Tischplatte stellte, so dass die Eischale ganz leicht eingedrückt wurde. Und siehe da – das Ei stand senkrecht.

      Im 17. Jahrhundert gab es noch keine IQ-Tests. Hätte es sie gegeben, wäre Kolumbus sicher auf einen Wert von über 120 gekommen. Unser Jacob liegt zwischen 70 und 80. Keine Chance, Seefahrt zu studieren, einen Segelschein zu machen, neue Welten zu entdecken.

      Aber auch er vollbringt das scheinbar Unmögliche, indem er die üblichen Denkmuster verlässt.

      Bevor ich weiter erzähle, überlegen Sie selbst: Ist es möglich, eine mit einer üblichen Kindersicherung geschlossene Autotür von innen zu öffnen? Lassen Sie sich ruhig Zeit mit der Suche nach einer Lösung; Jacob hat es immerhin auch erst nach drei Tagen geschafft. Aber dann innerhalb von etwa 30 Sekunden.

      Bis unser Ältester knapp vier Jahre alt ist, bleibt die Kindersicherung in unserem Auto unbenutzt. Erst ist Jacob gar nicht in der Lage, die Tür von innen zu öffnen, später hat er kein Interesse daran. Bis er schließlich doch den entsprechenden Hebel betätigt – bei Tempo 100 auf der Überholspur. Natürlich schreiten wir Eltern sofort ein und legen den Knopf der Kindersicherung um. Jacob versucht drei Tage lang, seine neue Entdeckung noch einmal durchzuführen. Vergeblich, die Autotür bleibt zu. Nur Mama und Papa sind in der Lage, sie zu öffnen. Und zwar von außen.

      Hat es jetzt bei Ihnen »Klick« gemacht? Nein? Bei Jacob schon. Drei Mal beobachtete er, wie wir die Tür auf bekamen. Beim vierten Mal lade ich erst die Einkäufe aus dem Kofferraum, bevor ich Sohnemann von der Rückbank holen will. Und finde eine sperrangelweit geöffnete Tür samt einem schelmisch grinsenden Jacob vor.

      Ist die Kindersicherung doch nicht eingerastet? Ein kurzer Check bestätigt: Doch, sie ist. Aber das Fenster ist heruntergekurbelt. Und zwar nicht von mir.

      Mein Mund steht wahrscheinlich mindestens so weit offen wie die Autotür. Sollte Jacob tatsächlich ... ? Schließlich mache ich die Probe aufs Exempel: Schließe Fenster und Türe und fordere Jacob auf, auszusteigen. Und siehe da, als wäre es das Logischste der Welt, kurbelt Jacob das Fenster herunter, greift nach außen