39. Gemischte Geburtstagsgefühle
Fünf Worte
Mai 1997
Manchmal genügen fünf Worte, um einem für Monate, wenn nicht für Jahre, den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
»Wir müssen Sie leider entlassen« – und Sie sind zu perplex, um den Sprecher darauf hinzuweisen, dass er das Wörtchen »leider« gleich mit Ihnen zusammen wegrationalisieren könne.
»Ja, ich liebe eine andere« – und Sie sind zu perplex, um zu fragen, ob das »Ja« zu der Neuen eine höhere Halbwertszeit haben werde als das, das einst Ihnen galt.
Meine fünf bodenverschlingenden Worte sprach mein Frauenarzt: »Das gibt wieder einen Hydrozephalus« – und ich war zu perplex, um ihm zu entgegnen, dass »das« in meinem Bauch nicht irgendetwas geben würde, sondern schon etwas war: nämlich mein Kind. Ob es einen Hydrozephalus bekommen würde oder nicht, konnte an dieser grundlegenden Tatsache nichts ändern.
Meistens fallen mir die richtig schlagfertigen Antworten erst mit ein paar Tagen Verspätung ein. Bei meinem Frauenarzt brauchte ich dafür anderthalb Jahre.
Nicht, weil ich sein Mediziner-Latein nicht verstanden hätte. Sondern deshalb, weil ich wohl besser wusste als er, was diese fünf Worte bedeuteten. Und zwar von unserem Jacob. Bei ihm hatte ich vor zweieinhalb Jahren genau dieselbe Diagnose erhalten.
»Hydrozephalus« heißt auf deutsch-medizinisch »Wasserkopf«. Für alle Nicht-Mediziner: Der Körper produziert laufend etwas mehr Nervenwasser, als er abbaut. Dieses kleine bisschen Zuviel drückt zuerst die Schädelknochen auseinander, so dass der Kopf unnatürlich groß und unförmig wird. Sobald dort alle Dehnungsmöglichkeiten ausgereizt sind, presst das Nervenwasser das Gehirn zusammen. Früher bedeutete das für alle betroffenen Kinder den sicheren Tod.
Früher. Oder in drei Vierteln der Länder dieser Erde, in denen es sich nur die Allerreichsten leisten können, ihrem Neugeborenen im westlichen Ausland ein High-Tech-Ventil in den Kopf einsetzen zu lassen.
Was bin ich froh, dass wir in Westeuropa leben! Natürlich ist auch unser Krankenkassen-System nicht perfekt. Auch ich hätte da noch ein paar Verbesserungsvorschläge. Aber es gehört zu den besten dieser Welt. Jacob bekam ohne ein Wimpernzucken von Ärzten oder Krankenkasse ein mehrere Tausend Euro teures Ventil eingesetzt, das alles überschüssige Nervenwasser in den Bauchraum ableitet. Dort wandelt es der Körper in Pipi um. In der Windel fällt dieses kleine bisschen Nervenwasser gar nicht mehr auf.
Problem gelöst. Sagten mir damals die Ärzte. Anfangs haben wir ihnen geglaubt. Jacob war unser erstes Kind; wir hatten keine Ahnung, auf welche Kennzeichen einer gesunden Entwicklung wir hätten achten müssen. Auch der Kinderarzt kam erst nach einem halben Jahr darauf, dass unser Ältester sich bei weitem nicht »normgerecht« entwickelte. Und verschrieb uns Krankengymnastik. Später kamen noch Logopädie und Frühförderung dazu. Alles finanziert von der Krankenkasse. Weil es so selten gesagt wird, tue ich das hiermit einmal: Danke!
Was die Krankenkasse nicht lösen kann, ist mein dadurch entstandenes Zeitproblem. Zu den ganz alltäglichen Aufgaben einer Hausfrau und Kleinkind-Mutter kommen bei mir eine ganze Menge weiterer Termine: Pro Monat einmal in die Klinik zur Ventilkontrolle, einmal zum Kinderarzt zur Entwicklungskontrolle, einmal zum Augenarzt zur Augeninnendruck-Kontrolle. Pro Woche einmal zur Logopädie, einmal zur Ergotherapie, zweimal zur Physiotherapie. Pro Tag einmal Sprach-Anbahnungs-Übungen, zweimal Feinmotorik-Training, dreimal Krankengymnastik. Dazu mehrmals täglich wickeln, füttern, umziehen, trösten, herumtragen, reden, singen, spielen, lachen. Und das Wichtigste: Bei alledem 24 Stunden pro Tag nicht durchdrehen.
All das jetzt also im Doppelpack.
Ganz nebenbei habe ich auch noch Multiple Sklerose. Die hält sich zwar ziemlich zurück – »Gott sei Dank« im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Neurologe rät mir lediglich, mich zu schonen.
Wie das funktionieren soll, weiß der Himmel. Ich kann nur hoffen, dass wenigstens der es weiß.
Offener Brief an Gott 1
Mai 1997
… wenn der Himmel es weiß … Nun, da du ein allwissender Gott bist, musst du es ja wohl wissen. Und du weißt sogar noch viel mehr.
Natürlich weißt du, dass bei der Zeugung meines Kindes das kranke Gen in der befruchteten Eizelle steckte. Natürlich weißt du, dass das Kind in meinem Bauch nie eine Chance auf ein eigenständiges Leben haben wird. Natürlich weißt du, dass ich mir das alles ganz anders vorgestellt habe. Natürlich weißt du, dass mein Leben ab jetzt völlig anders aussehen wird als geplant – und nicht gerade besser.
Und obwohl du das alles gewusst hast, hast du das alles zugelassen. Wer bist du eigentlich?
»Gott ist die Liebe«, steht in der Bibel. Eigentlich glaube ich das ja auch. Nicht nur, weil es in der Bibel steht. Sondern auch, weil ich es immer wieder so erfahren habe. Ich habe mit begeistertem Herzen unzählige Lieder darüber gesungen, habe dir immer wieder im Gebet dafür gedankt. Ich habe Anspiele dazu geschrieben und immer wieder erzählt: Gott liebt jeden Menschen.
An diesem Satz will ich ja gar nicht rütteln. Ich muss ihm nur drei kurze Worte anhängen: Nur nicht mich.
Denn du musst gewusst haben, was du mir damit antust. Du kennst mich doch! Du hast gesehen, wie ich die Diagnose »MS« damals ziemlich klaglos weggesteckt habe. Du hast auch meinen inneren Kampf darum miterlebt, Jacobs Behinderung zu akzeptieren. Du weißt, dass die ganzen Arztbesuche und Therapien mich oft an den Rand meiner Belastungsfähigkeit bringen.
Und du weißt, dass Martin und ich uns ganz bewusst dafür entschieden haben, als Pfarrersfamilie dir zu dienen: Dein Wort verkündigen, in Predigten, Gesprächen, Krabbelgruppen, Kindergruppen, Jugendfreizeiten. Das wollten wir, das tun wir.
Und was tust du? Statt dich darüber zu freuen, schmeißt du uns einen Stolperstein nach dem anderen in den Weg.
Reicht es dir nicht, dass wir schon eine chronische Krankheit und ein behindertes Kind in der Familie haben? Musste es jetzt auch noch das zweite treffen?
Sieht so Liebe aus?
Dass in dieser Welt nicht alles glatt läuft, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat, das ist mir schon klar. Aber das Päckchen, das ich bis jetzt zu schultern hatte, war mir schon fast zu schwer. Und nun setzt du noch eins oben drauf. Das ist definitiv keine Liebe mehr, das ist auch keine »normale Härte« mehr. Das ist Sadismus.
Was hast du dir dabei eigentlich gedacht? Vielleicht hat es dir ja sogar Spaß gemacht? Oder vielleicht sitzt du jetzt gerade oben auf deiner Wolke Nummer sieben und denkst dir den nächsten Nackenschlag für mich aus?
Und