3 Adrian Plass, Die rastlosen Reisen des frommen Chaoten, Brendow Verlag 1996, S. 54–63.
Krabbelgruppe
Juli 1998
Ich muss zugeben, ich hatte etwas Bauchschmerzen vor der ersten Mutter-Kind-Stunde, die ich in unserem Ort anbiete. Immerhin kamen mir vor einem halben Jahr noch regelmäßig die Tränen, wenn vor unserem Fenster ein Kind in Jacobs Alter vorbeihüpfte, während mein Ältester gerade übte, sich zum Stehen hochzuziehen.
Aber ich kann und will mich nicht mehr den ganzen Tag nur um die Behinderung meiner Kinder drehen. Ich brauche wieder eine Aufgabe, die mich herausfordert, ohne mich zu überfordern. Deshalb habe ich es gewagt, mit Cornelius eine Krabbelgruppe ins Leben zu rufen. Er ist jetzt etwas über ein Jahr alt, und der Kontakt mit anderen Kindern wird ihm gut tun. Mal sehen, was da sonst noch so auf mich zukommt.
Als erstes kommen fünf Mütter mit sechs Kindern auf mich zu. Clara ist acht Monate alt, Tobias fast drei. Tom, Lisa und Cornelius trennen gerade mal sechs Tage Altersunterschied. Eine Gruppe, mit der sich einiges anfangen lässt.
Nach der Vorstellungsrunde nehme ich den Spiegel und singe jedem Kind mein Begrüßungslied auf die Melodie von »Bruder Jakob«: »Guten Morgen, Lisa, Gott schuf dich, er hat dich sehr schön gemacht. Gott liebt dich.«
Hilfe! Auf Lisa trifft dieser Text natürlich vollkommen zu – aber auf Cornelius? Kann ich ihm wirklich zusingen, dass Gott ihn perfekt gemacht hat? Inklusive Wasserkopf und Knick-Senk-Füßen? Warum habe ich da nicht früher dran gedacht? Jetzt ist alles zu spät, ich werde es singen müssen.
Erst mal ist Clara dran. Auf ihrer Wange prangt ein dicker Leberfleck, und sie schielt deutlich. Ihre Mutter schaut mich schon vorher skeptisch an. Hat Gott Clara schön gemacht? Ich knie mich vor Clara hin, halte ihr den Spiegel vors Gesicht. Soll ich jetzt einfach singen? Nein, ich streiche ihr kurz über den Kopf und sage ein paar bewundernde Worte über ihre dichten schwarzen Locken. Die Mutter schenkt mir ein dankbares Lächeln. Ja, Claras Haare sind schön.
Tobias scheint mir überhaupt nicht zuzuhören. Während ich singe, rutscht er auf seinem Stuhl hin und her und bemalt gleichzeitig den Spiegel mit Spucke. Garantiert wird seine Mutter ihn demnächst wegen ADHS zur Ergotherapie kutschieren.
Jetzt zu Cornelius. Zwei braune Strahleaugen, hellblonde Haare, ein Babylachen, das jeden dahinschmelzen lässt. Würde man adoptionswilligen Eltern nur Fotos von Clara und Cornelius zeigen, sie würden sich sofort für meinen Jungen entscheiden. »Schön« ist er durchaus. Perfekt ist er nicht. Aber dass Gott ihn geschaffen hat und ihn liebt, trifft für Cornelius trotzdem genau so zu wie für Clara, für Tobias und jeden anderen Menschen. Gott sei Dank! Nach Clara und Tobias kann ich mein Liedchen auch für Cornelius aus voller Überzeugung singen.
Nach dem kurzen Programmteil setzen sich die Muttis zu Kaffee und Keksen an den Tisch. Für die Kinder schütte ich meinen Duplo-Sack aus. Freudiges Quietschen aus sechs Kehlen. Tom und Lisa rennen zu den Bausteinen, Cornelius lässt sich auf seinen windelgepolsterten Popo fallen und rutscht sitzend in die Spielecke. Tom und Lisa kriegen den Mund nicht mehr zu. Wie bewegt der sich denn vorwärts? Dann, wie auf Kommando, lassen auch sie sich auf den Boden fallen und probieren Cornelius’ Fortbewegungsmethode aus: Ein Bein anwinkeln, um stabil zu sitzen, das andere vorstrecken und daran den Popo nachziehen. Klappt. Zehn Minuten lang hat Clara die Bausteine für sich, die anderen Kinder spielen fröhliches »Poporutschen« um die Wette. Cornelius ist der Geschickteste – klar, er hat ja auch die meiste Übung. Dass er noch lange nicht wird laufen können, fällt den Kindern gar nicht auf.
Die Muttis von Tom und Lisa bleiben nach der Krabbelgruppe noch da. Irgendetwas liegt ihnen auf dem Herzen. Schließlich spricht Margret, Toms Mutter, mich leicht verlegen an: »Wir haben ja gewusst, was mit deinem Sohn ist. Und wir haben lange überlegt, ob wir unseren Kindern zumuten können, jetzt schon einem Behinderten zu begegnen. Wir wussten so gar nicht, wie sie auf ein Kind reagieren würden, das gleich alt ist wie sie, aber noch nicht laufen und sprechen kann. Aber so, wie sie heute miteinander umgegangen sind – das war einfach schön.«
Margrets Worte gehen mir noch lange nach. Warum hatten sie Bedenken? Sie sind wohl selbst noch nie enger mit Behinderten in Kontakt gekommen. Dann war es also höchste Zeit, dass ich mit Cornelius die Initiative ergriffen habe!
Und was die Kinder betrifft – sie erleben doch tagtäglich, dass Menschen unterschiedlich weit in ihrer Entwicklung sind. Niemand erwartet von Tom, dass er schon lesen kann wie seine große Schwester, und Lisa kann selbstverständlich viel mehr Dinge als das Baby ihrer Nachbarin. Kinder kennen noch keine Tabellen, auf denen steht, welche Fähigkeit zu welchem Alter gehört, und die damit auch beurteilen, ob ein Kind sich »gut« oder »schlecht« entwickelt. Der eine läuft, der andere rutscht. Na und? Beides ist spannend. Hauptsache, alle haben zusammen ihren Spaß.
Vielleicht sollte ich die Entwicklungstabellen beiseite legen und von Toms und Lisas Unbefangenheit lernen. Und nächste Woche mein Begrüßungslied ganz ohne Bedenken singen. Auch für Clara, Tobias und Cornelius.
Offener Brief an Gott 3
Juli 1998
Ich glaube, du hast es geschafft. Du hast mir zumindest ein Buch zum Thema Leid in die Hände fallen lassen, das ich bis zur letzten Seite gelesen habe, ohne es ein einziges Mal in die Zimmerecke zu pfeffern. Und du hast mich über einen Bibelvers stolpern lassen, über den ich wirklich ins Nachdenken gekommen bin.
Ich habe ja schon in gefühlten siebzehneinhalb Büchern oder Artikeln zum Thema »Leid« eine vernünftige Antwort gesucht. Meistens habe ich mich dabei allerdings gefühlt wie ein Sehender, dem ein Farbenblinder den Unterschied zwischen grün und rot erklären will. Am schlimmsten waren die Autoren, die in ausgefeilten Theorien darlegen, wie »man« Leid zu betrachten habe.
Wie schon gesagt, ich bin nicht »man«.
Außerdem könnten solche Schreiber alles Mögliche von mir verlangen – solange ich dazu nicht fähig bin, kann ich es einfach nicht tun. Da könnte man genauso gut einen Eiswürfel in die Sahara legen und von ihm verlangen, nicht zu schmelzen.
Aber dieses eine Buch, das du mir jetzt in die Hände gespielt hast, spricht vom Leben. Vom realen, manchmal brutalen Leben in einer absolut nicht perfekten Welt. Der Autor hat selbst einiges davon abbekommen und weiß daher sehr wohl, wovon er spricht. Deshalb hat er auch keine einfachen, oberflächlichen Antworten. Alle seine Erfahrungen tiefster Verzweiflung, seine Gefühle der Bitterkeit und seine Überlegungen um das Warum münden in der Erkenntnis: »Gott sucht Menschen, die ihm vertrauen, auch wenn sie ihn nicht verstehen.«
Ich nehme an, du hast mir schon häufiger Sätze wie diesen über den Weg geschickt und versucht, damit endlich mein Herz wieder zu erreichen. Bisher war alles vergeblich, mein Schmerz und meine Wut haben alles an mir abperlen lassen wie Wasser an einer Regenjacke.
Aber mit diesem Satz hast du die kleine Stelle an der Naht gefunden, an der das Wasser doch durchdringen kann.
Er drückt ziemlich genau das aus, was ich empfinde: Verstehen werde ich wohl nie, weshalb du uns Krankheiten auflädst, die man locker auf drei Familien verteilen könnte. Das übersteigt die Denkmöglichkeiten jedes Menschen.
Aber das erwartest du auch gar nicht von mir.
Du willst etwas ganz anderes von mir: Dass ich dir nach wie vor mein Leben anvertraue, trotz aller erlebten Enttäuschung. Dass ich gegen den ersten Augenschein glaube, dass du es letztendlich gut mit mir meinst, auch wenn du nicht alles Leid von mir fern hältst.
Bei meiner Konfirmation mussten alle Konfirmanden im Gottesdienst zwei Bibelverse auswendig aufsagen. Den ersten habe ich längst vergessen; der zweite wird mir wohl immer im Gedächtnis bleiben. Weil ich mich als einzige in der ganzen Gruppe verhaspelt habe.
Es waren nur ein paar Zeilen aus Psalm