Wer nur auf die Löcher starrt, verpasst den Käse. Sabine Zinkernagel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sabine Zinkernagel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783862567027
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genauer andenken. Das würde ich Martin auf keinen Fall antun. Also muss ich dein Spiel mitspielen. Aber du kannst nicht auch noch verlangen, dass ich das weiterhin mit Begeisterung tun werde.

      Alle Formen meines Glaubenslebens, die ich bisher mit echter Überzeugung gelebt habe, werden sich nun wohl grundlegend ändern. Ich hab ja versucht, weiterzumachen wie früher, mir selbst business as usual vorzuspielen, aber es geht einfach nicht.

      Da war der Gottesdienst.

      Mit dem wunderschönen Choral »Gott ist gegenwärtig«. Und ich habe in Gedanken mit den Schultern gezuckt. Na und? Was habe ich von deiner Gegenwart, wenn du immer nur weiteren Mist in mein Leben schaufelst? Der Pfarrer hat irgendwas von tätiger Nächstenliebe gepredigt. Dafür werde ich in den nächsten zwanzig Jahren ganz bestimmt keine Zeit haben. Meine beiden Kinder zu lieben, wird schon eine genügend schwierige Aufgabe für mich sein. Wenn ich das überhaupt schaffe …

      Gegen Schluss das Vater Unser, darin ganz am Anfang der Satz: »Dein Wille geschehe«. Ich setze flüsternd, mit einem Blick auf meinen Bauch, dazu: »Wenn der so aussieht, bitte nicht«.

      Ich versuche ja, zu beten. Aber ich kann mich nicht aufraffen zu einem Dank, erst recht nicht zu einem Lob. Das Bitten hab ich aufgegeben, mit denen stoße ich bei dir ganz offensichtlich auf taube Ohren. Bleiben nur noch Vorwürfe an dich, so wie hier.

      Und ich versuche, in der Bibel zu lesen. Die Texte, die für diese Woche vorgeschlagen sind, bestehen aus Worten, die sinnlos an meinem Kopf und wirkungslos an meinem Herz vorbeirauschen.

      Deshalb habe ich die Berichte über Jesus aufgeschlagen. Das sind wenigstens leichter fassbare Geschichten. Lauter Berichte von Wundern, vorzugsweise Heilungen. Und mittendrin so steile Sätze wie: »Die Menschen brachten ihre Kranken zu Jesus, und er heilte sie alle.« Wirklich alle? Einfach so? Auch die, die gar nichts mit dir am Hut hatten? Solche, die auch später nichts von dir wissen wollten? Mit all denen hattest du Mitleid. Und mit mir? Ich hatte was mit dir am Hut, sehr viel sogar! Aber wo bleibt die Heilung?

      Irgendwie bin ich doch erleichtert, dass meine Bibel gut gebunden ist. So hat sie es wieder einmal überlebt, dass ich sie mit Nachdruck in die Zimmerecke geschmissen habe.

      Ob ich es jemals wieder schaffen werde, ganz normal an dich zu glauben? Ob ich das überhaupt will?

      Ob du das überhaupt willst? Wenn ja, dann musst du ziemlich bald etwas dafür tun!

      Martin will es, und viele unserer Freunde wollen es auch. Sie tun auch etwas dafür. Sie hören mir geduldig zu, sie versuchen mich zu trösten, mich zu ermutigen. Und lassen sich von ihrer Erfolglosigkeit bisher nicht entmutigen. Sie beten für mich.

      Ich bin ihnen auch wirklich dankbar. Vor allem dafür, dass mir bisher keiner mit frommen Sprüchen gekommen ist. Ich kenne schon genug davon: »Gott lädt niemandem mehr auf, als er tragen kann« – da bin ich der lebende Gegenbeweis.

      »Gottes Hilfe kommt nie zu spät« – stimmt. Denn »nicht zu spät« kann ja auch heißen, dass sie gar nicht kommt.

      Und dann die steile Behauptung von Paulus aus seinem Brief an die ersten Christen in Rom: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.« Eine Forderung, die ich weder erfüllen kann noch will. Jedenfalls nicht, solange mir niemand sagen kann, wie dieses »Beste« aussehen könnte. Um an Gutem auszugleichen, was meine Kinder an Einschränkungen ihrer Lebensmöglichkeiten hinnehmen müssen, müsste es ziemlich gewaltig sein!

      Okay, Paulus konnte das für sich wohl so sehen. Ich beneide ihn sogar ein wenig deswegen.

      Aber akzeptieren, dass es für mich das Beste sei, wenn du meinen Kindern keine Chance auf eine normale Zukunft gibst – nein, das kann ich nicht.

      Wenn ich überhaupt irgendwie weiter an dich glauben will, muss ich wohl diesen Vers aus meiner Bibel herausschneiden.

      Aber so weit bin ich längst noch nicht. Ich meine nicht das Rausschneiden, ich meine das Glauben.

      Engel

       Mai 1997

      Natürlich gibt es Engel. Himmlische Wesen, die Gott manchmal mit besonderen Aufträgen auf die Erde schickt. Aber es gibt auch Menschen, die Engelsaufgaben übernehmen. Rein rational gesehen gibt es keinen Grund dafür, dass sie tun, was sie tun. Bleibt nur eine Erklärung: Gott muss ihnen diesen Auftrag gegeben haben.

      In den ersten Monaten nach der Diagnose für Cornelius beauftragt Gott wohl mehrere Menschen damit, für uns zum Engel zu werden. Um uns zu zeigen, dass er sich mitten in dem organisatorischen und gefühlsmäßigen Chaos immer noch für uns zuständig fühlt.

      Es fängt mit unseren Nachbarn an. Wir sind gerade in das kleine Dorf im Westerwald gezogen. Dass Erika und Helmut nette Leute sind und sich bemühen, uns den Anfang in der neuen Stelle zu erleichtern, haben wir schon bald gemerkt. Aber das, worum wir sie nun zu bitten wagen, kann man auch vom nettesten Menschen der Welt nicht erwarten: Mein Frauenarzt hat mich zur Absicherung der Diagnose an das Klinikum in Siegburg überwiesen. Etwa 90 Minuten Fahrt für eine Strecke. Und was dort auf mich zukommen wird, kann ich mir nach den Erfahrungen mit Jacob schon lebhaft vorstellen: Endloses Warten in zugigen Gängen oder stickigen Wartezimmern, in denen andere Frauen in freudiger Erwartung ihr Baby im Bauch herumtragen. Endlose Ultraschall-Sitzungen, Blutabnahme, weitere Untersuchungen, nach denen sich die Ärzte erst einmal bedeckt halten würden. Und dann das abschließende Gespräch, das jedes kleinste Fünkchen Hoffnung, mein Gynäkologe könnte sich doch geirrt haben, zunichte machen würde.

      Kein Tag für schwache Nerven also. Und meine Nerven sind nicht nur schwach, sie sind am Ende. Allein werde ich das nicht durchstehen. Martin muss mit.

      Und Jacob kann nicht mit. Diesen ganzen Tag lang das erste von nun zwei behinderten Kindern um mich herum zu haben, inklusive Wickeln, Füttern, Beschäftigen und Vom-Untersuchen-der-Kabeldiverser-medizinischer-Geräte-Abhalten – das wäre definitiv zu viel für mich. Und für Martin auch.

      An unserem neuen Wohnort kennen wir noch kaum jemanden. Unsere Nachbarn sind die einzigen, die wir bitten können, Jacob für einen Tag zu übernehmen.

      Für dieses Kind sollten sie also einen ganzen Tag lang verantwortlich sein? Ohne zu wissen, wann wir zurückkommen würden. Ohne eine Möglichkeit, uns im Notfall zu erreichen.

      Eigentlich können wir uns das Fragen gleich sparen.

      Martin tut es trotzdem. Und erntet natürlich keine begeisterte Zustimmung. Nur ein zögerndes: »Wir denken darüber nach«. Das ist eigentlich schon mehr, als ich erwartet habe.

      Keine zwei Stunden später klingelt Erika an der Tür. Das sei ja eine echte Notlage, und ihr täte das alles so leid, und sie würde ja verstehen, dass Martin mitkommen müsse nach Siegburg, und … und deshalb würde sie es wagen und sich solange um Jacob kümmern.

      Es geht nicht nur gut, es ist der Anfang einer wunderbaren Freundschaft zwischen Jacob und seinen Ersatzgroßeltern. Nach diesem Tag hat Jacob seinen Wortschatz um die Worte »Elmu« und »Eika« erweitert.

      Nach diesem Monat staunt das ganze Dorf darüber, was Helmut, der bisher nicht gerade als Kindernarr aufgefallen ist, mit seinem Ersatzenkel alles unternimmt. Jacob darf mit ihm Rasen mähen und Unimog fahren, auf der Werkbank sitzen und mit dem Bobby Car seine Einfahrt herunterrasen.

      Nach Cornelius’ Geburt stoße ich mehr als einmal an die Grenzen meiner Multi-Tasking-Fähigkeiten: Da will ich mein Baby stillen, das Mittagessen ist längst überfällig, Jacob räumt quengelnd alle Küchenschubladen aus, das Telefon klingelt zum x-ten Mal – und dann schrillt noch die Haustürklingel. Draußen