Allerdings entwickelte sich Cornelius’ Saugkraft nicht in gleichem Maße wie sein Hunger. Was tun? Zufüttern? Nein, meint die Hebamme kategorisch. Sie hatte da etwas anderes im Sinn …
Was es war, erfuhr ich erst, als sie eines Samstags in Begleitung ihrer Schwester erschien. Die Schwester arbeitete in der Schweiz, in einer Klinik, die auf Säuglinge mit Down-Syndrom spezialisiert ist. Dort hatten sie spezielle Massagegriffe entwickelt, um die Mundmuskulatur der Babys zu stärken. Die wollte sie mir nun zeigen.
Ich war völlig platt. Da hatte die mir völlig unbekannte Frau gerade einmal ein Wochenende Urlaub, fährt von der Schweiz in den Westerwald zu ihrer Schwester, und was machen die beiden an dem einzigen Nachmittag, den sie gemeinsam hatten? Kommen zu mir, um mir Mundmuskel-Stimulation beizubringen. Das tun keine Menschen, so etwas tun nur Engel!
Es half tatsächlich. Durch regelmäßiges Massieren aller Gesichtsmuskeln hin zum Mund saugte Cornelius stärker. Ein halbes Jahr lang konnte ich ihn voll stillen! Dann bekam ich doch wieder einmal einen Schub MS, musste Cortisontabletten nehmen und mein Kind deshalb schlagartig abstillen. Aber eben erst im Alter von sechs Monaten. Fast so, als sei Cornelius ein ganz normaler Säugling.
Was für ein Wunder nach allem, was so deutlich dagegen gesprochen hat! Und was für ein Gott, der das möglich gemacht hat!
Und was für tolle Menschen, die sich dafür im richtigen Moment als Engel zur Verfügung gestellt haben! Ich habe sie alle nur flüchtig kennengelernt. Ich weiß nicht einmal mehr ihre Namen. Aber ich bin mir sicher: Gott kennt ihre Namen. Und er wird sich eines Tages daran erinnern, dass sie dazu bereit waren, sein Geschenk an mich zu überbringen.
Wieso, weshalb, warum?
September 1997
… wer nicht fragt, bleibt dumm. Wer die falschen Fragen stellt, allerdings auch. Und im Zusammenhang mit behinderten Kindern ist die Frage nach dem Warum allenfalls ein Ausdruck der Hilflosigkeit, aber keine Frage, deren Antwort wirklich weiterhilft.
Ich für meinen Teil kenne die Antwort inzwischen. Sie lautet L1CAM. Alles klar?
Was wie ein Passwort für einen Sicherheitsserver im Internet klingt, ist die Bezeichnung für irgendein winziges Teil eines Gens in meinen Zellen, das nicht ganz richtig funktioniert. Im Klartext: Ein Gendefekt. Vererbt über eines meiner beiden X-Chromosome. Da ich zwei von der Sorte besitze, kann das intakte das defekte ausgleichen. Keine Spur von Behinderung bei mir. Allerdings kommt jeder Junge, dem ich mein defektes X-Chromosom vererbe, unweigerlich behindert zur Welt. Denn bei Jungs hat das L1CAM keinen Partner, der den Defekt ausgleichen könnte.
Und nun? Was fange ich nun mit diesem Wissen an?
Die einzige Möglichkeit einer Heilung bestünde darin, in jeder Zelle von Jacobs und Cornelius’ Körper das defekte Bruchstückchen eines Gens durch ein gesundes auszutauschen. Der menschliche Körper besteht aus etwa fünfzigtausend Milliarden Zellen. Bei Kleinkindern dürften es ein paar weniger sein. Das würde die Arbeit schon etwas erleichtern. Seltsamerweise hat es trotzdem noch nie jemand versucht.
Mein Frauenarzt könnte bei jeder weiteren Schwangerschaft das Blut des Embryos auf das L1CAM untersuchen lassen. Im »negativen« Fall könnte ich mich freuen. Im »positiven« Fall müsste ich – laut Ärzten – das Kind nicht zur Welt bringen. Aber würde ich diesen Rat wirklich befolgen? Ganz bestimmt nicht. Also würde ich eben doch ein drittes behindertes Kind bekommen, das meine körperlichen und emotionalen Kräfte endgültig überfordern würde.
Da ist die Pille noch die beste Lösung.
Ein Genetiker könnte alle Blutsverwandten auf meinen Gendefekt untersuchen. Braucht er aber nicht. Ich habe keine Schwester, bei der man nun ebenfalls das Erbgut checken könnte, damit sie vor der Zeugung eines Kindes Bescheid weiß. Meine Mutter und meine Großmutter haben auch nur Brüder. Sie selbst haben das zeugungsfähige Alter längst überschritten. Also besteht keine Gefahr einer unwissentlichen Weitergabe des ominösen Erbgut-Passwortes. Wenigstens da haben wir Glück gehabt.
Mein Ehemann könnte mit dem Wissen, dass meine Gene die Behinderung unserer Söhne ausgelöst haben, etwas anfangen. Er könnte sich eine andere Frau suchen. Eine, die ihm gesunde Kinder schenken kann. So etwas machte man in der Antike. Sollte man meinen. Betroffene Männer kommen auch heute noch schnell auf diese Idee. Ihre Verwirklichung kommt für meinen Mann aber nicht in Frage. Andere Frauen können das nur vermuten, ich weiß es aus der Praxis. Dicker Kuss für Martin.
Ein Statistik-Schüler könnte mir ausrechnen, dass ich jetzt das Anrecht auf sechs gesunde Kinder habe. Denn die Wahrscheinlichkeit auf einen Jungen beträgt 50 Prozent. Und von diesen 50 Prozent bekommt, rein statistisch gesehen, nur die Hälfte mein defektes Gen. Macht eine Wahrscheinlichkeit von 25 Prozent. Bei zwei bereits behinderten Kindern würden die restlichen 75 Prozent aus vier Mädchen und zwei gesunden Jungen bestehen.
Jeder Statistik-Professor würde dem Schüler aber erklären müssen, dass sich das errechnete Verhältnis erst dann auf den statistischen Wert einpendelt, wenn ich eine genügend große Grundmenge Kinder in die Welt setze. So etwa 100.
Ich weiß von einer Mutter mit dem gleichen Gendefekt. Sie hat es immerhin auf sieben Kinder gebracht, darunter fünf Jungen. Und nur einer hat ihr L1CAM erwischt. Sie fragt sich, wieso es bei ihr ein so geringer Prozentsatz ist. Eigentlich müsste sie mir Statistik-Ausgleichs-Schadensersatz zahlen. Ich habe freundlicherweise darauf verzichtet, ihn einzuklagen.
Nein, die Frage nach dem Warum führt nicht weiter. Für mich steht eine ganz andere Frage im Raum, drängend, manchmal bedrohlich und jeden Tag neu: Was jetzt?
Wie gestalte ich mein Leben unter diesen erschwerten Umständen?
Wie schaffe ich ein innerliches Ja dazu, dass dieses blöde winzige L1CAM alle ganz normalen Zukunftshoffnungen für meine Kinder schon bei ihrer Zeugung einfach durchgestrichen hat?
Wie kann ich der Versuchung widerstehen, mich der Resignation hinzugeben?
Das sind die wesentlichen Fragen. Eine feste Antwort darauf habe ich nicht.
Vielleicht gibt es sie auch gar nicht. Wahrscheinlich muss ich immer wieder neu Antworten darauf finden. Sie werden unterschiedlich ausfallen, je nach Situation, Stimmung und Kraft. Aber ich muss die Antworten nicht alleine finden. Martin sucht natürlich mit. Manchmal liefern unsere Kinder selbst Antworten.
Und manche Antwort, manche Ermutigung wird mir immer wieder einmal einfach vor die Füße gelegt. Von Gott. Mitten in dem gefühlsmäßigen Chaos, in das ich immer wieder hineinschlittere, schickt er mir Zeichen seiner Fürsorge. Mal groß und unübersehbar, mal unscheinbar klein und kaum erkennbar. Manchmal renne ich blind daran vorbei und erkenne erst im Nachhinein, wo ich wieder einmal beschenkt worden bin.
Eigentlich ist es schon ein Wunder für sich, dass Gott mir immer noch Zeichen seiner Güte schenkt, obwohl ich sie so oft, blind vor Tränen in den Augen oder Wut im Bauch, liegen gelassen habe.
Wie gut, dass Gott mehr Geduld mit mir hat als ich selbst. Wie gut, dass ich mich auch für alle eventuellen künftigen Katastrophen in meinem Leben darauf verlassen kann.
CRASH
September 1997
Die Behinderung, die den Defekt des L1CAM auslöst, hat ebenfalls einen Namen: CRASH-Syndrom. Jeder Buchstabe des Syndroms steht für ein Symptom des Gendefektes: Corpus-callosum-Agenesie, mentale Retardierung, adduzierte Daumen, spastische Paraplegie und Hydrozephalus.
Hinter diesen Fachbegriffen verbergen sich eine ungenügende Verbindung zwischen beiden Hirnhälften, eine verzögerte geistige Entwicklung, eingeschlagene Daumen, eine mehr oder weniger stark