14Allers, R. (1963/2008). Abnorme Welten. Ein phänomenologischer Versuch zur Psychiatrie. Hrsg., kommentiert und eingeleitet von Batthyány, A. Weinheim/Basel: Beltz, 143
15Vgl. dazu die Kapitel „Viel Bildschirmzeit – wenig Empathie“ und „Vorbild und Beeinflussbarkeit“ in Lukas, E. (2018). Auf den Stufen des Lebens. Bewegende Geschichten der Sinnfindung. Kevelaer: topos premium
16Während anfangs noch eine gewisse Vorsicht beim Suchtmittelkonsum waltet, verliert sich diese immer mehr, weil die sukzessive Abhängigkeit einen häufigeren Konsum und/ oder eine laufende Dosissteigerung erfordert. Das nennt man „Toleranzverlust“. Der suchtmittelfreie Zustand wird vom Organismus immer weniger und schlechter „toleriert“.
17Vgl. dazu: Spitzer, M. (2015). Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München: Droemer
18Frankl, V. E. (1982). Der leidende Mensch. Bern: Hans Huber (2. Auflage), 197f.
19Diesen Gedankengang gipfelte Frankl in seiner imperativen Maxime auf: „Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen – im Begriffe bist.“
20Batthyány, A. (2019). Die Überwindung der Gleichgültigkeit. Sinnfindung in einer Zeit des Wandels. München: Kösel (2. Auflage), 53f.
21Frankl, V. E. (2010). Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten. Weinheim: Beltz, 22f.
II. ZUR PSYCHOLOGISCHEN BEDEUTUNG REALISTISCHER MENSCHENBILDER
1. UNSER SELBSTBILD UND SEINE AUSWIRKUNGEN
Batthyány: Wir sprachen zuletzt von der Not als Lehrmeister … es gibt aber auch noch andere und weitaus weniger glaubwürdige Lehrmeister, die unser Welt- und Menschenbild jedoch maßgeblich prägen. Es sind Lehrmeister, denen zugleich oft viel mehr und lieber Gehör geschenkt wird als der eigenen Not oder der Not der anderen. Ich denke da insbesondere an die Rolle der Wissenschaft, vor allem auch der Psychologie, bei der Prägung unseres Menschenbilds.
Wir beobachten ja in den letzten Jahren eine erneut entfachte breite Diskussion über die Grundfragen und das Wesen des Menschseins, wie sie in dieser Intensität vielleicht zuletzt zu Zeiten Darwins oder Freuds stattgefunden hat. Diese Entwicklungen hängen eng zusammen mit den Fortschritten der Neurowissenschaften, vor allem aber auch ihrer Popularisierung und Vereinfachung auf einen blanden Materialismus und Determinismus durch die populärwissenschaftlichen und Massenmedien. Auf die Materialismusdebatte brauchen wir hier jetzt nicht einzugehen – das würde ein eigenes Buch füllen und auf uns warten ja noch viele andere Themen, die besprochen werden wollen. Diejenigen, die sich für das Materialismusproblem interessieren und zu diesem Themengebiet nach Antworten suchen, finden aber ohnehin bereits eine Menge hervorragender Abhandlungen zu diesem Thema.22
Aber zum Determinismus gibt es einiges zu sagen – auch deswegen, weil es dazu einige empirische Befunde gibt, die uns in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen interessieren sollten. Sie belegen nämlich erstens den starken und direkten Zusammenhang zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir über uns und den Menschen denken und glauben – bzw. ihm und uns zutrauen. Zweitens zeigen sie aber auch, dass ein doch erheblicher Teil unseres Verhaltens durch unsere Einstellungen änderbar ist. Und drittens – etwas weiter gedacht – zeigen sie daher auch: Wenn Einstellungen dauerhaft änderbar sind, ist auch Verhalten dauerhaft änderbar. Das ist vielleicht auch für all jene eine gute Botschaft, die sich immer wieder das Versprechen abnehmen, „von jetzt an anders zu handeln“, dann aber doch immer wieder rückfällig werden und nach einer Weile feststellen müssen, dass der bloße Vorsatz, etwas von nun an anders zu machen, noch lange nicht ausreicht, um diesen Vorsatz auch wirklich tätig umzusetzen. Die Forschung zeigt ebenso wie die Lebenserfahrung der wohl meisten: Eine zusätzliche Zutat ist vonnöten – und diese Zutat scheint nun ganz grundlegend die jeweilige Einstellung zu sein, und hierbei vor allem unser Selbst- und Menschenbild: Ermutigt es uns, frei und proaktiv von unseren Möglichkeiten Gebrauch zu machen – oder entmutigt es uns und stempelt es uns zum Opfer unserer inneren und äußeren Bedingtheiten ab?
Um das konkreter auszuführen: Jemand, der sich und sein Verhalten für weitgehend abhängig von Innen- und Außenzuständen betrachtet, wird vermutlich gar nicht erst – oder weniger intensiv – versuchen, seinen Bedingtheiten gegenüber Stellung zu beziehen.23 Das klingt nun zunächst sehr einfach und naheliegend – aber wie eng dieser Zusammenhang wirklich ist, belegen einige Experimente über die Wechselwirkung von Selbstbild und Handeln, die von Verhaltensforschern in den letzten Jahren durchgeführt worden sind.
Die Experimente folgten im Prinzip zumeist demselben Schema. Man nahm eine zufällige Stichprobe und teilte sie in zwei Gruppen ein. Beide Gruppen bekamen – unter irgendeinem Vorwand – einen Text zu lesen. Der Text der ersten Gruppe argumentierte in ziemlich überzeugender Weise dafür, dass der Mensch vollständig durch seine Innen- und Außenumstände determiniert sei („nicht anders könne“). Der anderen Gruppe wurde in ebenso überzeugender Weise dargelegt, der Mensch sei zwar in Maßen bedingt, aber es käme vor allem auf seine eigenen frei gewählten Entscheidungen an, wie er sich verhalte; der Mensch sei daher in relevanter Weise willensfrei („er könne stets auch anders“).
Für gewöhnlich verbirgt man in solchen Studien die wissenschaftlichen Hintergrundabsichten vor den Versuchspersonen, damit man Erwartungseffekte, Verfälschungen und Ähnliches möglichst ausschließen kann. So auch hier. Das Ziel war ja, die reine, unmittelbare Wirkung des Glaubens oder Unglaubens an die eigene Willensfreiheit auf das Verhalten des Menschen zu untersuchen. Zu diesem Zweck gab es eine sogenannte Coverstory. Bei den erwähnten Experimenten ließ man die Versuchspersonen glauben, sie würden an einer Reihe mehrerer kleiner Einzelstudien teilnehmen, die nichts miteinander zu tun hätten. Von der ersten Studie wurde den Versuchspersonen mitgeteilt, sie teste das Verhältnis von Textverständnis und Texterinnerung. Die Versuchspersonen bekamen je nachdem, welcher Versuchsgruppe sie (zufällig) zugeteilt wurden, einen vermeintlich brandneuen Artikel einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu lesen, in dem von angeblich definitiven und revolutionären Forschungsergebnissen berichtet wurde, denen zufolge nun wissenschaftlich zweifelsfrei erwiesen sei, menschliches Verhalten sei vollständig determiniert (für die „unfreie Gruppe“) bzw. nicht determiniert, sondern stünde im Einflussbereich der bewussten Entscheidungsfähigkeit der Person (für die „freie Gruppe“). Natürlich waren beide Artikel fiktiv, aber den Versuchspersonen verriet man dies nicht. Sie glaubten, dass sie gerade eine grundlegende wissenschaftliche Stellungnahme für oder gegen die eigene Willensfreiheit gelesen hätten.
Nach dem Stellen einiger für die eigentliche Forschungsabsicht unwichtiger Testfragen wurde dieser Teil der Studienreihe für beendet erklärt und die Versuchspersonen wurden auf das nächste Experiment vorbereitet. Dieses war dann das entscheidende Experiment, diente also der eigentlichen experimentellen Überprüfung der Frage, wie sich der Glaube an einen Pandeterminismus oder an die eben doch vorhandene Willensfreiheit auf das Alltagsverhalten der Versuchspersonen auswirke. So sollten die Probanden in einem dieser Folgeexperimente24 z. B. einige Rechenaufgaben im Kopf lösen. Die Anweisung lautete: Auf einem Computermonitor würden nacheinander 20 mathematische Probleme präsentiert werden,