Das Interessante aber ist: Frankl hat – und das schließt wieder an das Zitat an, das Sie soeben brachten – diesen Blick auf die eigene Endlichkeit und das Verdichten der eigenen Entscheidungen und Handlungen zur jeweils individuellen Lebensgeschichte ja auch therapeutisch als Weg der Vermittlung von Lebensverantwortung wie folgt vorgestellt:
Wir weisen den Kranken an, sich vorzustellen, sein Lebensablauf wäre ein Roman und er selbst eine entsprechende Hauptfigur; es läge dann aber ganz in seiner Hand, den Fortgang des Geschehens von sich aus zu lenken, sozusagen zu bestimmen, was im nächsten Kapitel zu folgen hat. Dann wird er statt der scheinbaren Last der Verantwortung, die er scheut und vor der er flüchtet, seine wesenhafte Verantwortlichkeit im Dasein als Freiheit der Entscheidung gegenüber seiner Unzahl von Möglichkeiten des Handelns erleben.
Noch intensiver können wir schließlich an den persönlichen Einsatz seiner Aktivität appellieren, wenn wir ihn dazu auffordern, sich vorzustellen, er sei an einem Endpunkt seines Lebens angelangt und im Begriffe, seine eigene Biographie zu verfassen; und eben jetzt halte er gerade bei jenem Kapitel, das von der Gegenwart handelt; und es liege nun, wie durch ein Wunder, ganz in seiner Hand, Korrekturen vorzunehmen; er dürfe gerade noch das, was unmittelbar darauf geschehen solle, ganz frei bestimmen … Auch das Vehikel dieses Gleichnisses wird ihn zwingen, aus dem Vollen seiner Verantwortlichkeit heraus zu leben und zu handeln.21
Nun, dass jemand, der so kurz vor dem eigenen Ende steht wie die oben erwähnte ältere Dame, diese Einsicht gewinnt, lebt und weitergibt, ist eine Sache. Eine andere ist es, mitten im Leben im Blick auf die eigene Endlichkeit einen Anstoß zur Verantwortung zu entdecken. Das hat etwas durchaus Drastisches an sich …
Lukas: Ja, Frankl fuhr schweres Geschütz auf. Er schlug vor, die Patienten mit ihrer Endlichkeit zu konfrontieren und ihnen ihre Lebensverantwortung von der Warte des Todes aus ans Herz zu legen. In seiner Genialität hat er wieder einmal exakt den Punkt getroffen. Ich gebe zu: Ich habe immer Widerwillen verspürt, wenn die Suchtprofis erklärten, „es müsse den Süchtigen erst miserabel genug gehen“, bevor sie sich zur Therapie aufraffen. Aber es stimmt, so traurig es ist. Wenn die Wahrnehmung des „Sinndrucks“ schwindet, hat der „Leidensdruck“ noch eine allerletzte Chance. Ähnlich operierte Frankl angesichts der Problematik pathologischer Zeitströmungen. Vom Faktum des Todes aus beleuchtet, ändern sich die Präferenzen. Deswegen möchte ich, was Präventiv- und Therapiemöglichkeiten betrifft, die Reihenfolge der aufgelisteten Beobachtungen umdrehen. Man wird damit beginnen müssen, die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Lebens (inkl. Leiden und Sterben) voranzutreiben (4). Das wird – wie Frankl propagiert hat – das Verantwortungsbewusstsein für die Lebensnutzung schärfen (3). Daraufhin wird sich eine Dankbarkeit für vorhandene Sonnenseiten des Lebens einstellen (2) und der absurde Anspruch auf puren Lebensgenuss verlieren (1).
Tatsächlich zeichnen sich inzwischen derartige „Umkehrtrends“ vage ab. Deshalb möchte ich Sie gleichsam trösten: Ich sehe Grund zum „tragischen Optimismus“ (Frankl). Der Tod tastet sich mit seinen Fangarmen langsam durch die Fortschrittseuphorie hindurch. Die Autoabgase verpesten die Städte, die Klimaerhitzung verdorrt die Felder, der Plastikmüll besudelt die Meere, Viren breiten sich aus, die Schere zwischen Arm und Reich explodiert … Das von rasanten technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen überrumpelte menschliche Gewissen regt sich in den Weltbevölkerungen und müht sich, im Wettlauf aufzuholen. Es flüstert von globalen Megaaufgaben, die nur im friedlichen und konsensualen Miteinander bewältigt werden können. Mit steigender, bedrohlicher Not wird sein Flüstern eindringlicher werden und das Cybergesumme übertünchen.
Not lehrt Furcht und Ehrfurcht, was sich im (zu Unrecht spöttisch gebrauchten) Wort „Not lehrt beten“ niederschlägt. Not lehrt uns, dass uns alles nur „auf Zeit“ gehört, aber auch, dass uns dieses „auf Zeit Gehörige“ in einem Gnadenakt anvertraut ist. Und Beten nährt unsere Hoffnung, dass die Gnade immer noch waltet …
1Frankl, V. E. (2005). … trotzdem Ja zum Leben sagen. Bd. 1 der Edition der Gesammelten Werke. Hrsg. von Batthyány, A., Biller, K. und Fizzotti, E. Wien: Böhlau, 79. Genau genommen handelt es sich bei Frankls Formulierung um eine semantische Verkürzung des Satzes: „Glück ist das Nicht-Eintreten von dem, was einem erspart bleibt.“
2Lukas, E. In: Frankl, V. E. (1982). Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Bern: Hans Huber (3. Auflage), 290
3Lukas, E. (1971). Logotherapie als Persönlichkeitstheorie. Dissertation. Universität Wien
4Crumbaugh, J. C. & Maholick, L. T. (1964). An experimental study in existentialism: The psychometric approach to Frankl’s concept of noogenic neurosis. In: Journal of Clinical Psychology, 20 (2), 200–207
5Das österreichische Ausbildungsinstitut für Logotherapie und Existenzanalyse (ABILE) wurde 1994 mit ausdrücklicher Zustimmung Viktor Frankls gegründet und führt neben der regulären Psychotherapieausbildung auch Forschungsprojekte im Bereich der Psychotherapiewissenschaften an der Donau-Universität Krems aus.
6Vgl. dazu Lukas, E. (2014). Vom Sinn des Augenblicks. Hinführung zu einem erfüllten Leben. Kevelaer: topos plus, Kapitel „Die Sonnenseiten des Lebens bejubeln“
7Aspinwall, L. G. & Staudinger, U. M. (Eds.) (2003). A Psychology of Human Strengths: Fundamental Questions and Future Directions for a Positive Psychology. Washington, DC: American Psychological Association
8Berscheid, E. (2003). The human’s greatest strength: Other humans. In: Aspinwall & Staudinger. A Psychology of Human Strengths, s. Anm. 7
9Frankl, V. E. (1982). Theorie und Therapie der Neurosen. München: UTB
10Frankl, V. E. (1955). Pathologie des Zeitgeistes: Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde. Wien: Deuticke
11Frankl, V. E. (2018). Psychotherapie für den Alltag: Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde. Freiburg/Br.: Herder, 47
12Linville, P. W., Fischer, G. W. & Salovey, P. (1989). Perceived distributions of the characteristics of in-group and out-group members: Empirical evidence and a computer simulation. In: Journal of Personality and Social Psychology, 57 (2), 165; Struch, N. & Schwartz, S. H. (1989). Intergroup