Jedoch merkte der Versuchsleiter entschuldigend an, dass aufgrund eines Programmierfehlers die richtige Lösung einige Sekunden nach Präsentation der Aufgabe automatisch auf dem Monitor aufscheinen würde. Das sei nicht gewollt – und er bat die Versuchspersonen um ihre Mithilfe: Sie sollten kurz, nachdem die Aufgabe auf dem Monitor erschien, die Leertaste der vor ihnen liegenden Tastatur drücken – damit könnten sie unterbinden, dass die Lösung auf dem Bildschirm präsentiert werde. Der Versuchsleiter betonte, dass er zwar nicht nachprüfen könne und werde, ob und wie oft die Versuchsteilnehmer die Leertaste drückten, um das automatische Aufscheinen der Lösung zu verhindern. Aber er bat sie inständig darum, nicht zu mogeln und die mathematischen Probleme wirklich selbständig zu lösen – also nicht einfach ohne Drücken der Leertaste darauf zu warten, dass die Lösung erscheine. Andernfalls wären die Versuchsergebnisse wertlos und die langen und aufwendigen Vorbereitungsarbeiten vergeblich gewesen.
Daraufhin verließ der Versuchsleiter unter irgendeinem Vorwand den Raum; die Versuchspersonen fühlten sich also unbeobachtet und sich selbst überlassen. In Wahrheit registrierte der Computer aber natürlich, wie oft die Studienteilnehmer die Leertaste drückten bzw. wie oft sie warteten, bis die Lösung von alleine erschien.
Die Versuchspersonen hatten somit die Gelegenheit, die frustrierend langweiligen Rechenaufgaben deutlich bequemer hinter sich zu bringen, indem sie einfach nicht die Leertaste drückten und lediglich darauf warteten, bis die Lösungen auf dem Monitor aufleuchteten. Auf diese Weise wurde ein direkter Konflikt zwischen lust- und unlustbestimmtem Verhalten einerseits und rücksichtsvollem und im weitesten Sinne wertorientiertem Verhalten andererseits herbeigeführt. Es wurde mit anderen Worten eben jene Verleitungs- oder Versuchungssituation provoziert, der der ichschwache Mensch so häufig erliegt mit der Begründung, „nicht anders gekonnt zu haben“.
Ziel des Experiments war es, zu untersuchen, ob es in einer solchen Situation einen Unterschied ausmache, ob die Teilnehmer zuvor davon überzeugt worden waren, dass sie willensfrei bzw. willensunfrei seien. Und tatsächlich zeigte sich ein höchst signifikanter Effekt des recht kurzen Überzeugungstextes: Die Versuchspersonen, denen zuvor glaubhaft gemacht worden war, sie seien „unfrei“, drückten wesentlich seltener die Leertaste (in 48 % aller Fälle) – schummelten also signifikant häufiger als die Versuchsteilnehmer, denen zuvor ihre Freiheit zugesichert und bestätigt worden war. Diese drückten in durchschnittlich 70 % der Fälle die Leertaste. Oder anders formuliert: Die sich unfrei denkenden Versuchspersonen schummelten durchschnittlich bei 52 % der Rechenaufgaben, die sich frei denkenden Versuchspersonen bei durchschnittlich nur 30 %. Zudem zeigte sich eine starke positive Korrelation zwischen dem Glauben an die menschliche Willensfreiheit und ehrlichem Verhalten. Je erfolgreicher die Manipulation also war (d. h. je eher die Versuchspersonen dem jeweiligen Text Glauben schenkten), desto stärker war der hier beschriebene Effekt.
Dieser Versuchsaufbau wurde mittlerweile in unterschiedlichen Variationen und Testkonstellationen wiederholt – mit immer demselben eindeutigen Ergebnis. Es zeigte sich u. a., dass Menschen, die nicht an ihre eigene Entscheidungsfreiheit glauben, signifikant aggressiver handeln gegenüber unbekannten Personen, von denen ihnen zuvor – in einer wiederum kontrollierten Laborsituation – mitgeteilt worden war, dass sie sie als Spielpartner für einen weiteren Test abgelehnt hätten (Prinzip: „Wie du mir, so ich dir“). Es zeigte sich, dass sie allgemein weniger zuvorkommend sind (Prinzip: „Das können andere machen, ich bin mit meinen eigenen Sachen beschäftigt. Ich habe nichts davon, andere zu unterstützen“). Es zeigte sich, dass sie sich in Gruppensitzungen sogar wider besseres Wissen angepasster verhalten (Prinzip: „Mir ist wichtig, was andere über mich denken. Ich brauche ihre Anerkennung, weil ich mich dann besser fühle. Also stimme ich ihrem Urteil zu, obwohl ich es eigentlich nicht teile“). Es zeigte sich, dass sie weniger kooperativ sind, wenn es darum geht, auf Bitte des Versuchsleiters freiwillig einige Minuten länger als nötig an einer Aufgabe zu arbeiten (Prinzip „Was kümmert mich der andere, wenn es um mich geht?“). Und es zeigte sich, dass sie weniger hilfsbereit sind, wenn dem Versuchsleiter scheinbar versehentlich ein paar Utensilien aus der Hand fallen.25
Einige dieser Experimente haben wir mit meiner Forschungsgruppe an der Universität Wien wiederholt, und es ist, wenn man es mit eigenen Augen verfolgt, wirklich verblüffend, wie stark eine derart kurze „Intervention“ – das Lesen eines persuasiven Textes – über den Umweg des dadurch geänderten Menschen- und Selbstbilds sich auf das Verhalten der Versuchspersonen auszuwirken vermag. Wir haben allerdings weniger die problematischen Auswirkungen des Glaubens an den Pandeterminismus untersucht, als vielmehr die aufbauenden und positiven Auswirkungen des wieder erstarkten Glaubens an die eigene Willensfreiheit.26 Auch hier waren die Effekte stark (und durchaus heilsam etwa bei Prokrastination und ängstlichem Vermeidungsverhalten). Kurzum, die Forschungsergebnisse bestätigen, dass es einen erheblichen und messbaren Unterschied ausmacht, was Menschen über sich denken und von sich glauben. Und dass dasjenige, was sie über sich glauben, zugleich relativ leicht zu beeinflussen ist. Man braucht den Leuten beispielsweise nur glaubhaft mitzuteilen, es sei „wissenschaftlich erwiesen, dass …“, und dann reicht schon ein wenige Paragraphen umfassender Text, um ihr Selbst- und Menschenbild und über diesen Faktor ihr (moralisch relevantes) Verhalten zu beeinflussen.
Das alles ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem weitaus umfassenderen Datensatz ähnlicher Versuchsergebnisse, die insgesamt die logotherapeutische Aussage bestätigen, es gebe einen ausschlaggebenden und zentralen Zusammenhang zwischen Menschenbild, Selbstbild und Verhalten: Sie zeigen, wie stark der Einfluss unseres Menschenbilds auf das Bild ist, das wir von uns selbst abgeben.
Ferner machen diese Befunde aber auch deutlich, wie hoch die Verantwortung der Psychologen und Verhaltenswissenschaftler und Therapeuten ist, wenn sie Theorien und Modelle über „den“ Menschen in Umlauf bringen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich im Klaren darüber sind, dass ihre Theorien und Modelle in der allgemeinen Öffentlichkeit schnell als „wissenschaftlich fundierte Wahrheit“ aufgefasst werden – und seien sie noch so unausgegoren, spekulativ, fraglich oder weltanschaulich voreingenommen … und welchen Schaden sie auch anzurichten vermögen.
Lukas: Die Schlussfolgerungen aus den erwähnten Experimenten sind in der Tat brisant, fast ein bisschen beängstigend. Bleibt zu hoffen, dass die beteiligten Versuchspersonen nach Beendigung der von Ihnen beschriebenen Experimente darüber aufgeklärt worden sind, dass die ihnen vorgelegten Artikel pro oder kontra die Willensfreiheit frei erfunden gewesen sind und keinerlei „definitiven und revolutionierenden Forschungsergebnissen“ entsprochen haben. Man hat ihnen hoffentlich im Nachhinein gestanden, dass sie belogen worden sind.
Meines Erachtens wäre ein aufrichtiges und die Sichtweise zurechtrückendes Endgespräch mit jedem einzelnen Probanden die Mindestpflicht der Versuchsleiter gewesen.
Batthyány: Ja, eine ausführliche nachträgliche Aufklärung („debriefing“) ist sogar vorgeschrieben in den Ethikrichtlinien für psychologische Experimente im Allgemeinen und insbesondere für solche, in denen die Versuchspersonen durch die Versuchsleiter bewusst getäuscht worden sind.
Lukas: (Wollte man den „advocatus diaboli“ spielen, könnte man überlegen, ob es „ehrwürdiger“ ist, zu wissenschaftlichen Zwecken zu mogeln – wie die Versuchsleiter – als zu Bequemlichkeitszwecken zu mogeln – wie manche Versuchspersonen –, aber auf dieses schlüpfrige Parkett will ich mich nicht begeben.)
Vom psychologischen Standpunkt aus fällt die ganze Chose unter die Dachkategorie der Suggestionen, deren Wirkungen seit Urzeiten bekannt sind. Im Negativen ist ein riesiger Bogen um sie zu machen. Was hat zum Beispiel allein die Vermutung, ein „unerwünschtes Kind gewesen zu sein“, schon an Unfug gestiftet, um nur ein winziges Detail aus den vielen problematischen Deutungen herauszugreifen, die das Leben eines Menschen vergiften können. Trotzdem wird die Frage des ursprünglichen Erwünschtgewesen-Seins nicht selten bei Anamnesen in psychologischen Praxen diskutiert. Im Positiven bedienen sich sämtliche „Wunderheiler“ seit der Antike der Suggestion. Selbst Frankl ist nicht davor zurückgeschreckt, sie gelegentlich für seine Zwecke einzuspannen.27
Darf ich Ihre Erläuterungen noch dahingehend