Im Fanatismus dagegen – auch das bestätigt die sozial- und einstellungspsychologische Forschung – herrschen andere Ängste vor: erstens die Angst vor den eigenen Zweifeln, die umso radikaler kompensiert werden müssen durch Loyalitätsbeteuerungen gegenüber der fanatisch verteidigten Meinung oder Einstellung13; zweitens aber auch die Angst vor der Gültigkeit oder Wahrhaftigkeit anderer, den eigenen Ansichten widersprechenden Überzeugungen. Denn deren Wahrhaftigkeit würde wiederum (in diesem Fall berechtigte) Zweifel an den eigenen Ansichten wecken, was seinerseits wieder als beängstigend erlebt wird.
Kurz: So unterschiedlich die vier von Frankl beschriebenen krisenträchtigen Daseinshaltungen auch geartet sein mögen, sie alle haben einen gemeinsamen Nenner im Faktor der Angst: Angst vor der Zukunft (provisorische Lebenshaltung), Angst vor dem Schicksal (fatalistische Lebenshaltung), Angst vor anderen Gruppen (kollektivistische Lebenshaltung) und Angst vor anderen Deutungen der Welt oder bestimmter Weltzusammenhänge bzw. Angst vor den eigenen Zweifeln (fanatische Lebenshaltung). Und allen gemein ist zudem, wie Frankl betonte, das Kernmerkmal der Scheu vor der eigenen Verantwortung.
Bei der von uns in unseren Forschungen gefundenen fünften Pathologie – also der übertriebenen Anspruchshaltung und der damit meist einhergehenden mangelnden Ehrfurcht vor der eigenen Freiheit und Verantwortung und dem Leben insgesamt – scheint es dagegen überraschenderweise so, als spiele Angst eine eher untergeordnete Rolle. Im Gegenteil gewinnt man bei dieser Daseinshaltung viel eher den Eindruck, es fehle diesen Menschen ein wenig an Angst oder zumindest Sorge – und vor allem auch an Realismus etwa mit Blick auf die Tatsache, dass wir in Wirklichkeit erstens gar keinen Anspruch darauf haben, dass das Leben uns jeden nur denkbaren Wunsch erfüllt und uns alle Herausforderung und Bewährungsproben und Leiden „erspart“ und zweitens – wie Frankl es formulierte – dass nicht wir das Leben fragen, sondern wir im Gegenteil die vom Leben Befragten sind. Um es mit den Worten von Frankls seinerzeitigem Assistenten an der Wiener Poliklinik Paul Polak zu sagen: Wir können dem Leben keine Bedingungen stellen. Aber eben dies scheint in dieser Daseinshaltung eines der Kernmerkmale zu sein.
Je mehr unsere Erhebungsdaten in diese Richtung weisen und zeigen, dass die von uns beobachtete kritische Daseinshaltung sich von den von Frankl beschriebenen kollektiven pathologischen Geisteshaltungen abhebt, desto deutlicher wird, dass wir es hier tatsächlich mit einer neuen, fünften pathologischen Geisteshaltung zu tun haben, die man am ehesten wie folgt beschreiben könnte: Das Gute und Angenehme wird wie selbstverständlich hingenommen („es steht mir zu“), zugleich werden die Herausforderungen des Daseins – sei es das eigene Leid oder das Leid der anderen, und überhaupt alles, was in irgendeiner Weise nach Bewährung und Aufforderung zu konstruktiver Teilnahme am Leben aussieht, aus der eigenen Vorstellungsund Lebenswelt verdrängt.
Interessanterweise hat Rudolf Allers, seinerzeit einer der frühen Mentoren Viktor Frankls aus dem ehemaligen Umfeld der Individualpsychologischen Vereinigung um Alfred Adler, in seiner Phänomenologie der Psychiatrie bereits einige dieser Merkmale im Amerika der 1960er Jahre beobachtet und sehr treffend wie folgt beschrieben:
Konflikte, Schwierigkeiten aller Art, die man früher in Kauf nahm und als unvermeidlich anerkannte, erscheinen heute vielen als ungebührliche Störungen ihres Behagens. Sie sind überzeugt davon, dass sie ein Anrecht auf ein leichtes Leben haben, und sehen daher im Konflikt nicht ein unausweichliches Moment der menschlichen Wirklichkeit, sondern ein Symptom. Überdies scheuen sie die Verantwortung, die jeder, auch nur einigermaßen folgenschweren, Entscheidung anhaftet. Daher sind sie nur allzu bereit, die Entscheidung anderen aufzubürden. Es ist nicht leicht zu sagen, ob man diese Menschen nun wirklich als Neurotiker ansehen soll (…) oder als Menschen, die in der Diagnose eine gültige Entschuldigung für ihre oft genug selbstverschuldete Lebensunfähigkeit finden und in der Behandlung einen Kompromiss zwischen ihrer Begierlichkeit und ihrer Feigheit.14
In der heutigen Erscheinungsform dieser Geisteshaltung kommen allerdings wie erwähnt unseren Erhebungen zufolge noch einige weitere Merkmale hinzu: Es mangelt in Folge der eben beschriebenen Anspruchshaltung erstens an Dankbarkeit, zweitens an Leidensfähigkeit angesichts des unabänderlichen Schicksals, drittens an Mitgefühl und viertens an Verantwortungsbereitschaft – wobei das letzte Kriterium diese Geisteshaltung wiederum eindeutig in die ursprünglich von Frankl ausgemachten Pathologien des Zeitgeists eingliedert. Ein Mangel an Verantwortungsbereitschaft ist ja gemeinsamer Nenner und Bindeglied zwischen allen bisher beschriebenen kritischen Daseinshaltungen.
Somit scheinen wir hier einem verhältnismäßig neuen psychologischen Phänomen zu begegnen, das in der Regelmäßigkeit seines Auftretens nahelegt, dass wir es tatsächlich mit einer fünften kollektiven Neurose zu tun haben.
Allerdings habe ich dies, gewissermaßen aus Respekt vor der Tatsache, dass Frankls „Pathologie des Zeitgeistes“ so harmonisch in sich abgeschlossen ist, noch nie publiziert oder als Ergänzung zur bekannten „Pathologie des Zeitgeistes“ vorgeschlagen.
6. CYBERPATHOLOGIE (INTERNET UND PSYCHE)
Lukas: Im Gegensatz zu Ihnen, der – wie Sie andeuten – sich aus „Pietätgründen“ scheut, Frankls Zusammenstellung um eine fünfte kritische Zeitgeistströmung anzureichern, habe ich dies längst getan. Ich bin mir ziemlich sicher, Professor Frankl hätte es ebenfalls getan, hätte er die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft noch miterlebt. Ich habe diese fünfte „kollektive Neurose“ mit der grassierenden Cyberpathologie unserer Tage gleichgesetzt.15
Natürlich gibt es viele verschiedene Lebenshaltungen, die philosophisch und ethisch fragwürdig sind und krisenträchtige Auswirkungen für die Betreffenden und ihr Umfeld haben. Nicht umsonst hat die Logotherapie in ihrer Methodik der „Einstellungsmodulation“ ein therapeutisches Gegenmittel zu einem ganzen Katalog von Fehlhaltungen geschaffen. Um aber von einer Zeitgeistströmung sprechen zu können, müssen ihr sehr große Bevölkerungsteile huldigen. Und das ist mit der Cyberpathologie der Fall. Wir schlagen mit ihr nicht nur ein Kapitel kollektiver Sucht auf, die wie ein Moloch insbesondere die Jugend in ihren Bann zieht. Wir betreten mit ihr auch just jenes Areal, zu dem die von Ihnen genannten Beobachtungen fugenlos passen. Denn bei Süchtigen finden wir immer
1. eine hohe Anspruchshaltung: „Ich brauche das“… „Das steht mir zu …“, „Ich kann das Leben ohne das (Suchtmittel) nicht aushalten …“,
2. eine geringe Dankbarkeit, weil sämtliche Werte am Wahrnehmungshorizont allmählich verblassen und nur noch das Suchtmittel zählt,
3. ein herabgesetztes Verantwortungsbewusstsein, das parallel mit dem Toleranz-16 und Kontrollverlust der Süchtigen einhergeht,
4. eine Überspielung und Vertuschung der Abhängigkeit und Schwierigkeiten mittels erheblicher Lügen- und Selbstbetrugsenergie.
Ich gebe Ihnen absolut recht, dass die beiden Basiselemente „zu wenig angemessene Furcht“ und „zu wenig Ehrfurcht (vor dem verpflichtenden Guten, will heißen: dem Guten, das zu dessen Wertschätzung und zu dessen Weitergabe im Rahmen eigenen Vermögens verpflichtet)“ die Stützpfeiler der Malaise sind. Obwohl der Süchtige eine ausgedehnte Phase des Hineinschlitterns lang genau weiß, dass er menschlich, physisch, sozial, pekuniär bergab rutscht, ist nicht genug Furcht vor dem Abgrund da, um ihn mit aller Kraft und gebündelter „Trotzmacht des Geistes“ (Frankl) zur Handbremse greifen zu lassen. Gleichzeitig ist zu wenig Ehrfurcht da, Ehrfurcht vor der Kostbarkeit seines Lebens, vor den ihm gewährten Freiräumen und Ressourcen, vor dem Willkommensein in der Welt und Gerufensein durch die Welt, vor der Einladung, sie liebevoll und verantwortlich mitzugestalten … Kaum dringt etwas davon mehr zu seinem betörten Gehirn