3. UNTER DEM STERNENHIMMEL SICH UND DEM LEBEN NEU BEGEGNEN
Batthyány: Damit wird aber auch die Frage aufgeworfen: Was kann und soll die Logotherapie hierzu ausrichten – wie kann sie hier beitragen, um heilsam und korrigierend zu wirken? Natürlich kann – und soll sie wohl – aktiv am öffentlichen Diskurs über den Menschen teilnehmen, und tut das ja auch seit jeher. Ich möchte die Frage aber gerne konkreter mit Blick auf die Psychohygiene und Psychotherapie, also die Korrektur eines problematischen eigenen Menschenbilds, stellen.
Lukas: Ich denke, dass sich die Logotherapie vor dem Fehler hüten muss, eine Doktrin mit einer anderen zu bekämpfen. Als sich Frankl von der ersten und zweiten Wiener Schule der Psychotherapie abzugrenzen und eigene Wege zu beschreiten begann, war es für ihn notwendig, den gängigen reduzierten Menschenbildern ein vollständigeres entgegenzuhalten. Aber wir wissen aus anderen Zusammenhängen, dass der Versuch einer Gegeneinflussnahme nicht viel besser ist als die Einflussnahme, gegen die sie opponiert. Oder, wie ich meinen Patienten zu sagen pflegte: „Auch der umgedrehte Spieß ist ein Spieß“. Lässt sich eine Frau zum Beispiel jahrelang von ihrem Mann anschreien und demütigen, und gelingt es ihr dann endlich, sich auf die eigenen Füße zu stellen, zurückzuschreien und zurückzudemütigen, so hat sie sich damit noch lange nicht weiterentwickelt. Sie hat zwar gelernt, sich zu verteidigen, und wenn etwas daran gut ist, dann hat sie gelernt, sich auf ihre Würde zu besinnen, aber ansonsten hat sie sich exakt auf der Stufe verhakt, auf der ihr Mann steht, und kein Höckerchen höher. Erst wenn sie gewaltlos und in authentischer Gelassenheit seine Exzesse abwehren oder ignorieren oder belächeln oder ihnen ausweichen kann, erst wenn sie sich ohne Verteufelung ihres Mannes ein für sie beide günstiges Verhaltensrezept erarbeiten kann, ist sie wirklich um etliche Stufen höher aufgestiegen.
Analog ist es nicht die optimale Aufgabe eines Psychotherapeuten, seine negativ indoktrinierten Patienten gegenzuindoktrinieren, auch nicht zu ihren Gunsten. Man macht das zwar hin und wieder, um größeres Übel zu verhindern. Frankl verglich solche appellativen und suggestiven Strategien mit der sogenannten „Seilhilfe“ am Berghang. Klettern zwei Bergsteiger eine steile Wand empor, dann sichert der obere Kamerad, nachdem er einen festen Stand erlangt hat, den nachkommenden unteren Kameraden mit einem Seil. Dieses Seil soll den unteren retten, falls er abrutscht. Aber es ist nicht dafür gedacht, den unteren emporzuhieven. Sollte allerdings der untere Kletterer bedroht sein, den Halt zu verlieren, oder einfach keinen Griff in der Wand über sich mehr entdecken, gibt ihm der obere Kletterer einen kleinen Ruck mit dem Seil – gerade so viel, dass sein Kamerad den Aufstieg fortsetzen kann. Obwohl solche „Seilhilfe“ unter den professionellen Kletterern verpönt ist, verlangt eben die knallharte Realität so manche Konzession, und das ist in der psychotherapeutischen Praxis nicht anders.
Frankl, der ein begeisterter Bergsteiger war, wusste das. Wenn möglich, umschiffte er direktive Anweisungen und konkrete Beeinflussungen seiner Patienten, aber er scheute nicht davor zurück, zu ihrem Wohl deutlicher zu werden, als es sonst in der Branche üblich ist. Dennoch bevorzugte er den „Sokratischen Dialog“, und auch ich halte die In-Frage-Stellung von Selbst- und Fremdbildern, Menschen- und Weltbildern für außerordentlich fruchtbar. Fragen locken Antworten hervor, und Antworten tasten nach Argumenten. Über plausible Argumente kann man in einen Dialog eintreten, der seinem Namen gerecht wird, indem der „logos“, um den sich die Debatte gerade entfaltet, aus mehrfacher Warte betrachtet und à deux sorgfältig herausgeschält wird. Die psychotherapeutische Aufgabe ist es, die Mündigkeit und Kritikfähigkeit der Patienten zu fördern, ihr selbständiges Denken zu schärfen und blinde Nachsagerei und Rechthaberei ins Wanken zu bringen. Mitläufertum ist stets fatal. Die Despoten dieser Erde gewönnen keinerlei Macht, hätten sie keine Scharen von Mitläufern im Rücken …
Es stimmt: Wir Menschen sind beeinflussbare Wesen. Innere und äußere Einflüsse formen und prägen uns zuhauf. Doch da ist darüber hinaus jenes geistige Kapital, das uns befähigt, Stellung zu nehmen zu allem und jedem, und daher auch zu jedem Einfluss, der nach unserer Seele greifen will. Geist ist findig. Wenn jemand spürt, dass er sich einer Infiltrierung nicht entwinden kann, kann er allemal den Kontakt zu ihr stoppen. Genauso, wie Werbespots im Fernsehen nicht angeschaut werden müssen, weil man schließlich den Apparat abschalten oder während der Sendung aus dem Zimmer marschieren kann, genauso muss Idolen nicht gelauscht werden, die abstruse Gesichtspunkte verkünden. Es knospet genug Weisheit in unserem innersten Gespür, um Gutes von Bösem ungefähr unterscheiden zu können. Mein Tipp: gelegentlich in den nächtlichen Sternenhimmel blicken!
Ich weiß, das hat Seltenheitswert! Oft ist es zu kalt dafür. Oft ist der Himmel von Wolken verhangen. Für die Städter ist die Lichtverschmutzung zu krass: Über den beleuchteten Straßenschluchten zeigt sich kein Stern. Leider gibt es Millionen Kinder, die den Sternenhimmel gar nicht mehr kennen. Und wer nimmt sich schon die Muße dafür, nachts ins Freie aufzubrechen, um sich ins Firmament zu versenken?
Dennoch ist es eine wunderbare Möglichkeit, beunruhigende Indoktrinationen, falsche Vorbilder und implantierte Meinungen abzustreifen und mit dem verborgenen Zentrum des Selbst wieder in Verbindung zu kommen. Es ist eine sehr lange Tradition, dass Menschen, die Orientierung suchten, die Augen über den Nachthimmel haben gleiten lassen. Sie waren Wanderer, Seefahrer – und Reisende sind wir motorisierten Menschen auch. Wir sind auf einer Reise, die uns flott durch die rotierenden Jahreszeiten jagt; immer rascher und unaufhaltsamer, wie es uns dünkt. Der ehrfürchtige Blick zu den Sternen kann uns da eine sagenhafte Atempause verschaffen. Das sollten wir öfters ausprobieren.
Sie wundern sich vielleicht über diesen seltsamen Tipp.
Batthyány: Ich finde ihn vor allem sehr schön!
Lukas: Tatsache ist, dass wir tagsüber mit Mutter Erde stärker verwurzelt sind als nachts. Der Tag mit seinen Tagesgeschäften nährt die Vorstellung, dass sich unsere Existenz in ihnen weitgehend erfüllt. Die klare Nacht hingegen öffnet das Schaufenster zu einem überdimensionalen Kosmos, in dem sich die meisten unserer Geschäfte in überwältigender Bedeutungslosigkeit verlieren. Dafür zeichnet sich schemenhaft ab, was Ewigkeitswert haben könnte … und das sind sicher nicht die Auffassungen irgendwelcher Zeitgenossen, die uns mit ihren Phrasen überzeugen wollen. Wahrhaft Überzeugendes ragt in den Metaraum über uns hinaus und kann auch nur dort „sinn-bild-lich“ erfahren werden.
22Baker, M. C. & Goetz, S. (Eds.) (2011). The Soul Hypothesis: Investigations into the Existence of the Soul. London: A. & C. Black; Zunke, C. (2012). Kritik der Hirnforschung: Neurophysiologie und Willensfreiheit. Berlin: Walter de Gruyter; Gabriel, M. (2015). Ich ist nicht Gehirn: Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert. München: Ullstein eBooks; Peschl, M. F. & Batthyány, A. (Hrsg.) (2008). Geist als Ursache? Mentale Verursachung im interdisziplinären Diskurs (Vol. 2). Würzburg: Königshausen & Neumann
23Martijn, C., Tenbült, P., Merckelbach, H., Dreezens, E. & de Vries, N. K. (2002). Getting a grip on ourselves: Challenging expectancies about loss of energy after self-control. In: Social Cognition, 20 (6), 441–460
24Vohs, K. D. & Schooler, J. W. (2008). The value of believing in free will: Encouraging a belief in determinism increases cheating. In: Psychological Science, 19 (1), 49–54
25Stillman, T. F. et al. (2010). Personal philosophy and achievement: Belief in free will predicts better job performance. In: Social