In der – nach Maßstäben der Evolution – kurzen Zeit, seit das Menschengeschlecht das Licht der Welt erblickt hat, sind ungeheuerliche Fortschritte erzielt worden. Dass wir inzwischen fähig sind, Atome zu spalten, Informationen drahtlos rund um den Erdball zu schicken oder uns ins All aufzuschwingen, grenzt an Wunder. Tatsächlich sind es Ausstrahlungen des „wundersamen“ Geistes, mit dem wir begabt wurden, und der danach strebt, alles Vorfindliche zu handhaben, seine eigene Intelligenz genauso wie die Früchte der ihn tragenden Erde. Geistiges kennt keine Stagnation, Geistiges ist ununterbrochen in Bewegung, ja, wie Frankl formuliert hat: „Geist ist reine Dynamis“ – Bewegung (nicht im Raum, sondern) im Sein. Fortschritt ist das Fort- und Voranschreiten des Geistes.
Andererseits sind wir Wesen aus Fleisch und Blut, mit einer anfälligen und hinfälligen Physis und einer bunt zusammengewürfelten Psyche, in der die Emotionen und Kognitionen, Lust und Verstand, in einem kuriosen Gerangel miteinander liegen. Dieses „allzu Menschliche“ bremst das „spezifisch Menschliche“ immer wieder ein und umwölkt es mit Irrungen und Wirrungen und nicht zuletzt auch mit Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Folglich kommt alles darauf an, dass beim zügigen Fortschritt der verantwortliche Umgang mit den Neuerungen, die der Fortschritt mit sich bringt, ebenso zügig mithält. Dieser Wettlauf zwischen den Erfindungen des Geistes und der Sensibilität des menschlichen Gewissens rollt seit Jahrtausenden ab; bislang ohne eindeutige Gewinner und Verlierer. Dass jedoch die Erfindungen des Geistes in diesem Wettlauf einen bedenklichen Vorsprung haben, hat bereits Frankl Sorgen bereitet, als er anmerkte, dass weder die althergebrachten Traditionen noch die angeborenen Instinkte den Menschen der Gegenwart mehr (sittliche) Orientierung zu spenden vermögen, und gefährliche Auswüchse („wollen, was andere tun“ bzw. „tun, was andere wollen“) in das entstandene Orientierungsvakuum hineinwuchern.
Ich selbst habe die Erfindungen des Fernsehens, später des Computers, und mittlerweile des Smartphones miterlebt. Die Bildschirmfaszination, das Ergriffensein (im wahrsten Sinne des Wortes) von virtuellen Welten, das Unbedingt-dabei-sein-Wollen in der digitalen Moderne, die stürmische Begeisterung über ungeahnte und nie dagewesene Möglichkeiten … Das alles ist viel zu schnell über uns hereingebrochen, als dass sich irgendwelche Korrekturmechanismen hätten ausbilden können, zumal das bereits vorhandene Orientierungsvakuum solche erschwerte.
Erfindungen sind an und für sich wertneutral. Dass Physiker Mechanismen errungen haben, mit denen Atome gespaltet werden können, impliziert keinen Atombombenabwurf. Dass Raketen die Anziehungskraft der Erde überwinden können, impliziert keinen Vernichtungsschlag „von oben“. Dass beliebige Fotos für jedermann zugänglich ins Internet gestellt werden können, impliziert keine Kinderpornographie im großen Stil. Solange das Gewissen die Technik an der Leine führt, kann und wird sie uns zum Segen gereichen. Nur wenn es die Leine loslässt – dann bewahre uns Gott!
Der Cyberspace verlockt zum partiellen Ausstieg aus dem Zuständigkeitsbereich des Gewissens. So vieles darin ist bloß „Kino“, ist „Geflunker“, ist unecht. So vieles darin kann fantasiert, einfach behauptet, zu gemeinen Zwecken vorgegaukelt werden. Man kann zum Beispiel Folterszenen zur perversen Ergötzung der Betrachter nachstellen, ohne jemandem ein Haar zu krümmen. Mogelt man ein paar Videos von echt gepeinigten Personen darunter, fällt dies kaum auf. Der Ergötzungseffekt mag derselbe sein … Es ist brandgefährlich, wenn die Schranke zwischen Fantasie und Wirklichkeit wankt. Wenn die Überprüfbarkeit von Nachrichten schrumpft. Wenn User absichtlich auf falsche Fährten geleitet werden. Wenn unentwegt nichtige Botschaften von Wichtigem ablenken. Wenn kursierende Meinungen die Sachlichkeit verdrängen. Wenn der Glaube wächst, im Netz und nur dort stehe einem die ganze Welt offen … Wie soll sich das Gewissen des Einzelnen in diesem Getümmel von Realem, Irrealem, Surrealem auskennen? Das Gewisper im Äther lullt das Gewissen geradezu in den Schlaf.
Batthyány: … und doch ist es, wie bei jedem Instrument, auch eine Frage, wie und wozu man es verwendet …
Lukas: Freilich gibt es auch das dicke Plus des Fortschrittes. Das elektronische Gedächtnis speichert alles, was sich Menschen niemals merken könnten. Blitzschnell liegen auf jedwede Anfrage Antworten aus dem Erfahrungspool von Generationen auf dem Tisch. Blitzschnell kann mit weit entfernten bekannten oder unbekannten Personen kommuniziert werden, was ein gigantisches Gedankenaustauschprogramm ermöglicht. Es entstehen neue Transparenzen: Was hinter den Stirnen vorgeht, pulsiert plötzlich in einem öffentlich zugänglichen Datennetz. Und es entstehen neue Assistenten in Form von künstlicher Intelligenz und Robotik; Hausdiener, die beträchtlich weniger schwächeln als ihre Hausherren. Unser gesamtes Wirtschafts- und Zivilisationssystem wäre ohne sie bereits dem Chaos preisgegeben. Dass man von einer Hilfe abhängig wird, sobald man sie längere Zeit benützt, ist nicht zu verhindern. Autofahrer, die es gewohnt sind, von einem „Navi“ dirigiert zu werden, verlernen es, selbständig ihre Wege zu finden, u. Ä.
Leider gilt dasselbe auch für die sozialen Kontakte. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die realen Beziehungen zwischen Freunden und in den Familien bei einem krankhaften Medienkonsum deutlich verschlechtern. Experten beziffern die Schwelle zum krankhaften Medienkonsum mit ca. vier Stunden täglichem Smartphone-Starren – was eindeutig eine „untere“ Grenze darstellt, die zunehmend überschritten wird. Die Betreffenden wähnen sich zwar im Facebook-Universum mit anderen dialogisch verbunden, verlernen es aber, in direkter Nähe anderen verständnisvoll und konstruktiv zu begegnen. Es kommt noch schlimmer: Die „digital natives“ erlernen Empathie und gegenseitige Achtung gar nicht mehr richtig, wie Hirnforscher und Psychologen belegen.17 Laut Mehrfachstudien hegen viele dieser Sprösslinge einer heraufdämmernden Ära 1. die illusorische Erwartung, dass ständig auf sie eingegangen wird, wissen aber 2. Freundlichkeit und Interesse an ihrer Person nicht zu würdigen, sind sich 3. über die Folgen ihrer eigenen Aussendungen und Mails nicht im Klaren und halten 4. keinerlei „Belohnungsaufschub“ aus, weil alles uneingeschränkt sofort verfügbar sein muss. Voilà! Da sind sie: Ihre vier klugen Beobachtungen: Überzogene Ansprüche, kein Gefühl der Dankbarkeit, reduziertes Verantwortungsbewusstsein und die Abneigung, irgendeine Frustration durchzuhalten, und sei es nur das „Warten“ auf etwas Positives (vom Ertragen des Negativen gar nicht zu reden). Da ist sie: die fünfte „kollektive Neurose“ in der Pathologie des aktuellen Zeitgeistes!
7. NOT UND EHRFURCHT
Batthyány: Wenn wir nun den Weg von der Diagnose zur Therapie gehen wollten: Wie könnte ein solcher Ihrer Meinung nach aussehen?
Lukas: Schwer zu sagen. Ich weiß, in unserem Beruf gibt man sich mit diagnostischen Erwägungen nicht zufrieden. Man fragt sich sofort: Was wären denn Richtlinien für eine Therapie von Cyberkranken? Alle Logotherapeuten sind gut beraten, sich künftig intensiv mit dieser Frage zu beschäftigen. Überlegen wir: Gibt es einen Hinweis, den uns Frankl dazu hinterlassen hat? Er schrieb:
So ist die Zielsetzung der kollektiven Neurose dieselbe wie die der individuellen: Sie gipfelt und mündet aus in den Appell an das Verantwortungsbewusstsein … Wollen wir also unsere Patienten zum Bewusstsein ihres Verantwortlichseins bringen … dann müssen wir versuchen, uns den geschichtlichen Charakter des Lebens und damit die menschliche Verantwortung im Leben zu vergegenwärtigen … Dem Menschen … empfehle man zum Beispiel, einmal so zu tun, als ob er an seinem Lebensabend in seiner Biographie blätterte …18
Frankl führte an dieser Stelle aus, dass alle Details unverrückbar in den Abschnitten der eigenen Lebensvergangenheit festgeschrieben sind. Könnte man rückblickend eines davon ausradieren und verbessern, würde man das wohl oft gerne tun. Doch dieser Wunsch bleibt uns auf ewig versagt. Wie wäre es darum, schon während des Schreibens sorgsam darauf zu achten, dass die Details, die sich da verewigen, uns am Ende unseres Lebens nicht leidtun?19
Batthyány: