Ein bißchen Neugierde ist es auch, die mich beim Aufzeichnen leitet, sind doch einige schriftliche Erinnerungen verlorengegangen: man hat sie mir abgenommen, oder ich habe sie aus Furcht verbrannt.
Soviel zur Gestalt des Ganzen, auch als Erklärung für den Leser, damit er den Faden nicht verliert. Aber ich verspreche, ich bleibe weitgehend auf dem Boden der Tatsachen; ich lasse meine Fantasie nicht mit mir durchgehen.
Lassen wir nun die Fakten sprechen.
II.
Schüsse
Einige Frühkirschen – »balde Kiischa«, wie man hier sagte – waren schon zum Essen. Und der Mann, der im Juni 1948 durch die Wiesen schlich, von Baum zu Baum springend und dabei jede Deckung ausnutzend, so als sei er auf der Flucht oder scheute sich, gesehen zu werden, mochte einige schon probiert haben. Er mußte sich daran freuen, denn er stammte von hier und war von Kindheit an mit Bäumen und Kirschen umgegangen.
Da brach er kurz vor einem dicken Birnbaum zusammen: ein Schuß war gefallen aus einer großen ländlichen Stille heraus – und hatte ihn getroffen und auf der Stelle getötet.
Vom Schützen noch keine Spur. Nichts bewegte sich mehr nach dem Schuß. Die Landschaft schien den Atem anzuhalten, diese satte, fruchtbare Landschaft, die vom Krieg weitgehend verschont worden war und in der in den ganzen Jahren nur wenig Schüsse fielen – außer denen von Förstern und im Schützenverein. Davon gab es hier zwei; die mochten während des Krieges ihre Tätigkeit eingeschränkt haben – weil die aktiven Schützen im Feld waren: aber danach ging es mit doppelter Kraft weiter!
Selten wurde ein Mensch getötet. Aber jetzt. Aber heut. Drei Jahre nach Kriegsende. Und wer hatte geschossen? Ein letzter Soldat? Oder ein Feind auf einen letzten deutschen Soldaten? Tatsächlich gehörte der Tote von der Entwicklung her zu denen, die den Krieg immer noch irgendwie gewinnen wollten oder nicht wahrhaben wollten, daß er verloren war. Der Erschossene war der ehemalige Ortsgruppenleiter der NSDAP Fritz Fetz. Hier hatte ihn das Schicksal ereilt.
Vom Todesschützen nach wie vor noch keine Spur. Oder war es der da? Der zerlumpte Bub? Ja; ein Gewehr hatte er bei sich, wechselte es nun von einer Schulter auf die andere. Jetzt blieb er stehen, aber nur kurz; nun bewegte er sich langsam fort, so langsam, daß er unmöglich etwas mit diesem Fall zu tun haben konnte. Er schaute sich auch nicht mehr um, zeigte keinerlei Angst, gesehen oder verfolgt zu werden.
Es gibt keinen Zeugen für diesen Vorfall. Aber so muß man ihn sich vorstellen: so jenseitig und doch von dieser Welt. Eine Stunde später – vielleicht auch zwei, drei Stunden später; es dunkelte schon – fiel ein weiterer Schuß. Jetzt gibt es aber einen Zeugen: eine Zeugin, eine Frau – die Frau des nächsten Opfers! Sie erzählte, gesehen zu haben, wie der Bub vor der Hütte, wo ihr Mann, der Bürgermeister des Dorfes, sich noch versteckt hielt – und dem sie gerade das Essen bringen wollte –: wie der Simpel stehenblieb, sich ins Gras warf und um diese Hütte herumkroch. Unter einem Fenster, vor dem der Laden dran war, stand er auf und klopfte mit seinem Gewehr dagegen.
Er sagte kein Wort. Aber er klopfte wieder.
Die Frau hatte sich ebenfalls zu Boden geworfen; sie traute kaum zu schnaufen, so habe sie Angst gehabt, wie sonst nicht, als sie täglich ihren Mann in diesem Versteck besuchte, sagte sie später.
Er schlug ein drittes Mal mit dem Gewehrkolben gegen den Fensterladen. Und nochmal – bis die Tür aufging und der Mann mit erhobenen Händen herauskam. Jetzt schrie die Frau auf. Aber da war es schon zu spät; der Schuß war schon losgegangen und hatte auch diesen Mann niedergestreckt. Er sah aus wie ein Bauer; aber kein Bauer sperrte sich in eine Hütte ein – wir lebten doch nicht mehr im Bauernkrieg! Ein Bauer brauchte nicht mit erhobenen Händen aus seinem Haus kommen. Jetzt nicht mehr. Ein richtiger Bauer wäre vielleicht mit der Mistgabel auf die Straße gesprungen, wenn man so oft an seinen Fensterladen geschlagen hätte. Oder hier aus der Hütte auf die Wiese davor.
Der Bub beachtete die Frau überhaupt nicht. Er sah sie nur kurz an – samt dem Mann im Gras –, machte auf dem Absatz kehrt und trottete das Tal hinab. Die Frau blieb bei dem Toten, weinte, schluchzte, schrie auch und blickte dem Buben hintendrein – dieser wandelnden Vogelscheuche: Pickelhaube, viel zu groß; Uniformkittel, ebenso zu groß. Sie kannte ihn. Das war ein Dackel; aber was hatte er getan! Vielleicht träumte sie das nur alles. Sie hatte mal ein Buch gelesen von einem Don Quichotte und einem Sancho Pansa und einem Pferd Rosinante – ein Pferd? Ja, vielleicht kam gleich eins um die Ecke, oder es stand da unten; die Figur schwang sich auf seinen Rücken. Vorher mußte er nur noch seine Sieben Sachen einsammeln; einen Schild – aber der hatte ja ein Gewehr! Und die Leiche da? Sancho, nein, sein Herr, der Don Quichotte, hatte wieder eine Schlacht geschlagen. Und gewonnen. Aber sie hatte alles verloren: den Mann und die Hoffnung, daß man in dieser Zeit noch mal glücklich davonkam. Aber wie hätte man – vor allem glücklich – davonkommen sollen bei so viel Elend auf Erden? Jetzt und früher?
Nun, der Vergleich mit Don Quichotte hinkt doch etwas. Eher trifft das Bild von einer wandelnden Vogelscheuche zu. Andere Bilder fallen einem ein: Waldschrat; Höhlenbewohner, jedenfalls eine Erscheinung aus einer anderen Zeit. Doch sei es, wie es wolle: die Figur ist Wirklichkeit, und sie hat einen Namen – Karl Simpel, so hieß der etwa 13–14jährige Bub. Er stammte vom Ort; er war hier bekannt und geduldet – als Vogelscheuche; als Waldschrat, als Sonderling. Nicht nur, daß er sich so kleidete und sich manchmal so benahm: er galt als Dackel – als verrückt und unzurechnungsfähig. Das war sogar amtlich.
Schon seit Jahren lief er in dieser Aufmachung herum, hatte auch immer eine Waffe bei sich – und wenn nur Pfeil und Bogen; eine Heugabel, eine zerbrochene Sense, den Säbel seines Großvaters, eines Ortspolizisten, oder einen einfachen Brügel, einen Stecken.
Damit beschäftigte er sich; so drehte er seine Runden und sorgte seiner Meinung nach für Ruhe und Ordnung. So auch heute. Doch das war offensichtlich zu viel; da war Karl Simpel zu weit gegangen, war aus seiner Idiotenrolle geschlüpft und war für einige Augenblicke »normal« geworden? Eine Frage, die es zu beantworten gilt!
Das Gewehr war ja echt; er mußte es sich irgendwo besorgt haben. Aber was heißt das: »er mußte es sich irgendwo besorgt haben?« Gewehre und andere Waffen lagen ja gleich nach Kriegsende genug in der Landschaft herum. Das ganze Freibad war voll davon: dorthin hatte man die Gewehre, Dolche, Panzerfäuste, Revolver samt Munition gebracht, nachdem sie am Rathaus abgegeben werden mußten.
Es war ein öffentliches Schauspiel: die Franzosen standen da und übernahmen die Gewehre und zerschlugen sie an der eisenbewehrten Rathausecke. Ein Haufen türmte sich sehr schnell auf – so hatte man sich ja dann auch Fotoapparate, Radiogeräte, Wäsche und so weiter bringen lassen – das eine oder andere Gewehr mußte ganz geblieben sein, oder man fand ein funktionsfähiges Gewehr im Gelände, wo es ein flüchtender Landser einfach weggeworfen hatte. Da mußte es dann in die Hände von Karl Simpel gekommen sein, des Ortsdakkels, der es zunächst seiner Sammlung einverleibte.
Karl Simpel schien die Tat – besser die Taten – auch wenig zu berühren. Denn er machte sich nun auf den Heimweg; er ging nicht schneller und nicht langsamer als sonst. Zu Hause erklärte er nichts, und seine Mutter stellte ihm auch keine Fragen. Karl Simpel lebte zusammen mit seiner Mutter und einer jüngeren Schwester. Seit einigen Monaten war auch der Vater wieder da. Doch der Frieden dauerte nicht lange; die Frau des Bürgermeisters, die die Tat beobachtet hatte, alarmierte das Dorf und brachte die Militärpolizei ins Haus. Danach kam die deutsche Polizei, und die brachte den Buben zunächst in das benachbarte Amtsgerichtsgefängnis; von hier aus wurde Karl an das Landeskriminalamt nach Stuttgart überstellt, das für solche Fälle auch besser ausgerüstet war.
Obwohl es eigentlich ein Fall für den Arzt – für Zwiefalten oder Winnenden: also für das Narrenhaus war, wollte man erst herausfinden, ob nicht doch mehr dahintersteckte. Und der es in Stuttgart ermitteln oder herausfinden sollte, hieß Rudolf Maier, ein alter erfahrener Hauptkommissar; dazu noch Antifaschist, der mehrere Jahre während