Homo Lupus. Thomas Kiehl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Kiehl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783710951121
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Blick sie nicht zusätzlich provozieren konnte. Gleichzeitig suchte sie krampfhaft nach einer Idee, wie sie ihm seine Unverschämtheiten heimzahlen konnte.

      »Frau Bondroit!« Es war die Stimme von Ewald.

      Sie ließ ihre Augen noch einen Moment geschlossen, spürte jedoch, dass sich etwas im Raum verändert hatte. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass Ewald aufgestanden war und sich vor ihr aufgebaut hatte.

      »Jetzt spielen Sie mal nicht die beleidigte Leberwurst. Verstehen Sie denn mein Problem nicht. Wir haben nur noch elf Tage bis zum Anschlag. Und drei Tage später wird gewählt. Können Sie sich vorstellen, was dieser Anschlag neben den direkten Schäden für politische Auswirkungen haben könnte? Sofort haben wir wieder die elende Diskussion darüber, dass alle Einwanderer und Muslime Kriminelle sind. Und welche Parteien davon profitieren, wissen Sie auch. «

      An die Wahl hatte sie noch gar nicht gedacht. Dennoch. »Klar, ich verstehe Sie. Und Sie müssen machen, was Sie für richtig halten. Aber wenn Sie dazu meinen Segen wollen, kann ich Ihnen den nicht geben. Nur weil man etwas unter Zeitdruck macht, heißt das nicht, dass es richtig ist, einem pseudowissenschaftlichen Vorschlag eines selbst ernannten Wolfsspezialisten zu folgen.« Keine wirklich vernichtende Retourkutsche, aber hoffentlich doch zumindest ein kleiner Schlag in die Magengrube.

      »Jetzt hören Sie aber mal!«, echauffierte sich Fallender.

      »Verstanden.« Ewald ging auf seine Beschwerde zum Glück nicht ein. »Haben Sie einen besseren Vorschlag?«

      Ewalds Leute arbeiteten jetzt seit Monaten an dem Fall, aber von ihr erwarteten sie einen brauchbaren Vorschlag innerhalb von Minuten. Natürlich hatte sie keinen. »Leider nein.«

      »Ach, ne!« Fallender suchte den Blickkontakt zu Ewald. »Die Masche ist mir ja am liebsten.«

      Wiederum ignorierte Ewald Fallenders Kommentar, was ihm Lena hoch anrechnete. Er wandte sich an seine Kollegen. »Was meinen Sie?«

      »Wir sollten es zumindest probieren«, sagte der Sunnyboy nach kurzem Überlegen. »Ich denke, der Zeitpunkt könnte günstig sein. Sie wissen schon, wegen dem familieninternen Streit.«

      Wie süß, dachte Lena. Er kann sogar sprechen. Sie richtete sich an ihn. »Wie war noch mal Ihr Name?« Lena war sich nicht sicher, ob Ewald ihn überhaupt namentlich vorgestellt hatte.

      »Locke.«

      »Herr Locke. Eine kleine Familienfehde?« Sie sah ihn ernst an. »Wie häufig streiten Sie sich mit Ihren Eltern und Geschwistern?«

      Locke zuckte mit den Schultern.

      »Denken Sie mal an Weihnachten. Ist ja noch gar nicht lange her. War da alles harmonisch?«

      »Was hat das hiermit zu tun?« Locke sah unsicher zu Ewald und dem Stasi-Pagenkopf.

      »Wir kennen sie doch alle, die Streitigkeiten in der Familie. Hoch emotional, beleidigend, scheinbar zerstörerisch. Und dennoch, würden Sie deshalb Ihre Geschwister, Ihren Vater oder Ihre Mutter ans Messer liefern?«

      Lena stand auf und hielt Ewald, der immer noch vor ihr stand, die Hand zum Abschied entgegen. »Wiedersehen.«

      Sie hatte beschlossen, dass es jetzt das Beste war zu gehen. Nur so konnte sie vermeiden, dass es nicht doch noch zu einem Eklat kam, den sie später bereuen würde.

      »Und …« Sie sah noch einmal in die Runde. »Ein arabischer Clan ist sicherlich nicht mit einem Wolfsrudel gleichzusetzen. Vielleicht gibt es ein schwarzes Schaf, das bereit wäre, seine Familie zu verraten. Aber eines kann ich Ihnen sagen: So äußerlich zerstritten und kaputt eine Familie auch erscheinen mag, unterschätzen Sie nie ihre Bindungskräfte.«

      Michael hatte sich in der Zwischenzeit neben sie auf die Couch gesetzt und massierte ihren Nacken. Ihn schienen ihre Ausführungen eher zu amüsieren, als zu erschrecken.

      »Du bist einfach unverbesserlich«, sagte er kichernd. »Und wie hat Ewald auf deinen grandiosen Abgang reagiert.«

      »Das ist nicht witzig!«, beschwerte sich Lena, doch auch sie konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich vermute, dass er es trotzdem versuchen wird. Ein Agent wird jetzt auf das vermeintliche Omega-Tier zugehen, um es zu drehen. Ich nehme mal stark an, dass man Geld anbieten wird. Wofür man für so ein Vorgehen allerdings diesen Idioten brauchte, ist mir schleierhaft.«

      »Zur Identifizierung des Omega-Tiers.«

      »Ich weiß nicht.«

      »Egal. Und wo ist das Problem?«

      »Na ja …« Lena drehte sich um und strich Michael ein paar Haare von der Stirn. »Dass dieser von Fallender identifizierte Prügelknabe einfach nicht mitmacht und den Agenten verpfeift. Und was ein Clan mit einem Verräter macht, der versucht, die Familie zu unterwandern, das kann ich mir leider sehr gut vorstellen.«

      »Ewald wird schon wissen, welches Risiko er eingeht.«

      Lena sah Michael lange an. Sie hatte eigentlich keine Lust mehr auf Diskussionen. »Vielleicht.« Sie atmete tief durch. »Mir erscheint das ganze Vorgehen jedoch eher getrieben und unseriös. Ich bin zwar keine Clanspezialistin oder Psychologin, aber mit Systemen kenne ich mich ein wenig aus. Und die Familie ist ein System, das sich, wie jedes System, selbsterhalten möchte, weil sich daraus erhebliche Überlebens- und damit evolutive Vorteile ergeben. Verrat ist hier eher die Ausnahme als die Regel.« Sie musste an all die Missbrauchsfälle in Familien denken oder Fälle häuslicher Gewalt, die nie zur Anklage kamen; denn wer schickte schon gerne den eigenen Mann, Vater oder Onkel ins Gefängnis. »Und daher fürchte ich, dass Ewald vor ein paar Stunden ein Todesurteil gefällt hat.«

      »Möglich«, sagte Michael. »Dennoch kann ich Ewald irgendwie verstehen. Selbst wenn er einen Agenten verliert, darf er diese letzte Chance unversucht lassen? Vor allem wenn es darum geht, einen Anschlag und damit ein noch viel größeres Unglück zu verhindern?«

      Lena war zu müde, um weiter zu widersprechen. Sie küsste Michael auf die Stirn, obwohl ihr eigentlich gar nicht danach war. Es wäre ihr lieber gewesen, wenn er ihr einfach nur zugestimmt hätte.

      Sie beschloss, das Thema zu wechseln. Schließlich stand da immer noch Michaels seltsamer Rückzug vom Morgen im Raum. Die Ereignisse hatten sich so überschlagen, dass sie den schon fast vergessen hatte. Und dann die Fußspuren im Schnee.

      »Hattest du eigentlich noch Besuch?«

      Sie hatte das Gefühl, dass Michael kurz ihrem Blick auswich. Doch dann sah er ihr wieder in die Augen.

      »Natasha war noch da. Wegen dem möglichen Umzug. Wir haben uns heute Morgen die neuen Räume angesehen. Natasha ist nicht ganz überzeugt. Das Objekt ist zwar moderner und eigentlich genau das, was wir suchen, aber auch leider etwas kleiner.«

      Deswegen hatte er also losgemusst. Warum hatte er das nicht auf den Zettel geschrieben? »Und es liegt wahrscheinlich keine hundert Meter von ihrer Wohnung entfernt.«

      »Woher weißt du das?« Michael schaute sie überrascht an.

      »Weil ich Natasha kenne.« Natasha, die Leiterin der Behindertenwerkstatt, war sicherlich ein guter Mensch. Lena mochte sie trotzdem nicht. Das hatte seine Gründe. Obwohl Natasha viel Wert auf die Gleichberechtigung von Frau und Mann legte, kannte Lena nur wenige Menschen, die mit Frauen und Männern in so unterschiedlichen Tonlagen sprachen. Wenn sie mit Lena oder anderen Frauen redete, bekam Natasha einen seltsam hohen und fast hysterischen Gackerton in der Stimme. In Gegenwart von Männern hingegen »gurrte« sie. Und sie berührte Männer gerne am Arm, an der Hand oder sogar am Bein, wenn es sich anbot. Das war Lena schon häufiger aufgefallen. »Für die Werkstatt ist gut, was für sie selbst gut ist. Oder nicht?«

      Michael musste lachen. »Gut beobachtet!«

      »Danke. Ich muss jetzt trotzdem ins Bett.«

      »Schon?« Michael wirkte ein wenig irritiert.

      Sie nickte. »Sorry, ich bin fix und fertig.« Sie stand auf und ging in den Flur, von dem eine schmale Holztreppe in den ersten Stock führte. »Komm doch mit?«